Die Polizei soll in insgesamt mehr als 80 Verdachtsfällen gegen einen 45 Jahre alten Tennistrainer aus Bremerhaven ermittelt haben, vor dem Landgericht Bremen sollen nur die schwersten Vorwürfe Gegenstand einer Verhandlung werden. Oberstaatsanwalt Frank Passade bestätigt die Anklage und damit den vorläufigen Abschluss der Ermittlungen.
Sie waren seit Juni äußerst umfangreich geführt worden, die Kriminalpolizei gründete eine Ermittlungsgruppe, nachdem ein Schüler Anzeige erstattet hatte.
Die Räume mehrerer Sportvereine wurden durchsucht, große Datenmengen an Fotos und Videomaterial beschlagnahmt.
Mehr als 50 junge Sportler wurden befragt. Jugendliche und junge Männer, die in den zurückliegenden Jahren von dem Trainer unterrichtet wurden, bekamen Besuch von der Kriminalpolizei, um auf Fotos mögliche Opfer zu benennen.
Im Laufe der Ermittlungen erstatteten mindestens drei weitere Jugendliche Anzeigen.
Es geht bei den Vorwürfen um zwei Fälle des sexuellen Missbrauchs und eine Nötigung, um sechs sexuelle Übergriffe. Sieben Mal soll der Trainer sich kinder- und jugendpornografisches Material verschafft haben, Persönlichkeitsrechte soll er mit seinen Aufnahmen in 13 Fällen verletzt haben.
Das jüngste Opfer war elf Jahre alt
Der Trainer soll in Dusch- und Umkleideräumen heimlich Fotos von Kindern und Jugendlichen gemacht oder sie gefilmt haben.
Nach unseren Recherchen soll der Trainer mindestens zweimal von Jugendlichen verlangt haben, sich selbst zu befriedigen und ihm Videos davon zu schicken.
Die ältesten Vorfälle sollen bis 2016 zurückreichen, eines der Opfer soll damals elf Jahre alt gewesen sein. Keiner der betroffenen Jugendlichensei älter als 15 Jahre gewesen, sagt Passade.
Der Trainer arbeitete die vergangenen Jahre bei mindestens fünf Vereinen in Bremerhaven und dem Landkreis Cuxhaven, engagierte sich in der Regel auch als Jugendwart - zuletzt beim traditionsreichen Bremerhavener Tennisclub Rot-Weiß.
Hier nahmen die Ermittlungen ihren Anfang, nachdem sich ein Opfer seinen Eltern anvertraut haben soll und die zur Polizei gingen. Der Tatverdächtige betreute bis 2015 auch fünf Jahre lang eine Sport-AG an einer Grundschule im Landkreis Cuxhaven mit insgesamt 60 Kindern.
Natürlich sei man erschüttert über die Vorwürfe, sagt Klaus Stöver, der Vorsitzende des TC Rot-Weiß. Von den 270 Vereinsmitgliedern sind beinahe die Hälfte Kinder und Jugendliche.
„Ein sehr guter Trainer“, sagt Stöver über den Verdächtigen. Es habe nicht einen einzigen Hinweis gegeben, dass etwas nicht stimme mit seiner Arbeit.
Der Mann war im Juni nach der ersten Anzeige festgenommen worden und saß mehr als drei Monate in Untersuchungshaft.
Weil die Ermittler nach Abschluss ihrer Arbeit keine Wiederholungs- oder Fluchtgefahr sehen, ist der 45-Jährige seit einigen Wochen nicht mehr in Haft.
Wann das Verfahren gegen ihn vor dem Landgericht in Bremen eröffnet wird, ist ungewiss. Weil er nicht mehr in Haft ist, muss der Prozess nicht innerhalb eines halben Jahres beginnen.
Die Arbeit des Trainers wird als erfolgreich beschrieben
Der 45-Jährige galt als überaus erfolgreicher Trainer. Beim TC Rot-Weiß ist mit seiner Arbeit die Zahl der jugendlichen Mitglieder enorm gestiegen. Bis auf einen Jugendlichen folgten ihm alle jungen Spieler, als er in ihrem Verein aufhörte, um sich auf die Arbeit beim TC Rot-Weiß zu konzentrieren.
Er sei bemüht um seine Schüler, motiviere sie, die Trainingsgemeinschaft sei wie eine zweite Familie über den Sport hinaus, wurde er gelobt.
Auch deshalb sei es für ihn unbegreiflich, was passiert sein soll, sagt Stöver.
Nach den gemeinsamen Recherchen von NORDSEE-ZEITUNG, Radio Bremen und NDR ließ der Trainer seine Schüler schon mal im Sport-BH spielen, wenn sie zu spät zum Training kamen.
Mehrfach ist von „sexualisierten Trainingsmethoden“ die Rede. Auf Freizeiten ließ er Kinder und Jugendliche mal Kondome über ihre Köpfe ziehen und dann so lange aufblasen, bis sie platzten. „Das dürfen meine Eltern aber nicht sehen“, sagt ein Kind in die Kamera.
Er habe Beziehungen strategisch aufgebaut und Grenzen verschoben. Wie in einer „Sekte“, sagt ein Tennissportler, habe der Trainer die Jugendlichen um sich geschart.
Vereinsvorsitzender Stöver wusste, dass der 45-Jährige sehr aktiv war im Internet in sozialen Netzwerken. „Er hat viele Kinder gewonnen für den Club.“
Hilfsangebote
Das bundesweite „Hilfe-Portal Sexueller Missbrauch“ bietet Hilfe und Unterstützung bei sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche an - online und auch telefonisch. 0800/2255530, nina-info.de.„Anlauf gegen Gewalt“ ist eine unabhängige Anlaufstelle von „Athleten Deutschland“ bei körperlicher, psychischer oder sexualisierter Gewalt im Spitzensport. Kontakt: 0800/9090444.Von Gewalt und Missbrauch betroffene Breitensportler können sich auch an den Verein Safe Sport wenden: 0800/11 222 00.Lisa Gleis ist bei der Bremer Sportjugend Beauftragte für Prävention von sexualisierter Gewalt und für Kinderschutz (E-Mail: l.gleis@lsb-bremen.de). 0421/7 92 87-21.Niemand habe sich dabei etwas gedacht. Jetzt stehe über allem eine Frage im Raum: Wieso ist es niemandem aufgefallen, hat niemand etwas gesagt?
„Wir hätten reagiert“, sagt Stöver. „Deswegen sind wir so erschüttert.“ Er selbst, sagt der Vorsitzende, sei auch häufig auf dem Platz gewesen, wenn der Trainer unterrichtet habe. Auffällig sei für ihn dabei nie etwas gewesen. Ihn wundere, dass die Taten sich über Jahre erstrecken sollen.
Andere Aufnahmen zeigen, wie einem Jugendlichen beim Training mit Klebestreifen die Beine enthaart werden.
Es habe bereits an der Grundschule im Landkreis Verdächtigungen gegeben, berichtet jemand anderes. Als „dummes Gerede“ seien Auffälligkeiten abgetan worden, der Trainer mache doch eine erfolgreiche Arbeit.
Die niedersächsische Landesschulbehörde teilt auf Anfrage mit, weder ihr noch der Schule seien Gerüchte über sexualisierte Gewalt bekannt.
Landessportbund klärt auf
Seitdem die Ermittlungen laufen, hat der Landessportbund mehrere Informationsveranstaltungen für Bremerhavener Sportvereine über Schutzkonzepte gegen sexuelle Gewalt angeboten.
Die Bremer Sportjugend vergibt seit Frühjahr 2022 an Vereine und Verbände ein Kinderschutzsiegel, wenn sie sich besonders dem Schutz vor sexualisierter Gewalt widmen - etwa Kinderschutzbeauftragte benannt sind oder Trainer sich fortbilden, Gewalt im Sport vorzubeugen.
Rot-Weiß hat unter seinen Mitgliedern als erste Maßnahme eine Vertrauensperson benannt. Vom Landessportbund erhielt der Verein die Aufforderung, die für das Jahr 2022 verliehene Auszeichnung „Hervorragende Jugendarbeit im Sport“ zurückzugeben, die erhaltene 500-Euro-Prämie sei für Maßnahmen zum Schutz vor sexualisierter Gewalt zu verwenden.
Ihm, sagt Stöver, sei es wichtig, nichts „unter den Teppich“ zu kehren. Nur vier Mitglieder seien aus dem Verein ausgetreten, seitdem die Vorwürfe gegen den Trainer bekannt wurden.
Der Deutsche Presserat hat auf seinen jüngsten Sitzungen in diesem Monat insgesamt öffentliche 20 Rügen gegen verschiedene Medien ausgesprochen. Die meisten davon erfolgten aufgrund von Verstößen gegen die Sorgfaltspflicht und den Opferschutz, wie der Presserat in Berlin mitteilte.Die „Nordsee-Zeitung“ wurde wegen eines Verstoßes gegen den Schutz der Persönlichkeit und „unangemessen sensationeller“ Berichterstattung gerügt. Anlass dafür war ein Bild in den Print- und Online-Artikeln über die Anklage gegen einen Tennistrainer, dem vorgeworfen wird, jahrelang Schüler missbraucht zu haben. Grundsätzlich bestehe an der Berichterstattung über den systematischen Missbrauch ein großes öffentliches Interesse, betont der Ausschuss in seinen Erwägungen. Gerade auch vor dem Hintergrund der mutmaßlich jahrelangen Aktivitäten des Mannes. Gegen die Text-Berichterstattung der Redaktion bestehen aus Sicht des Ausschusses auch keine presseethischen Bedenken. Ausschlaggebend für den ethischen Verstoß sei ein Foto, das einen Schüler mit dem Trainer „in einer übergriffigen und demütigenden Szene“ zeigt. Das Bild sei über das öffentliche Interesse hinausgegangen und habe zudem die Täterperspektive transportiert. Außerdem hätten das abgebildete Opfer trotz der Verpixelung und weitere Betroffene durch die Veröffentlichung zusätzliches Leid erfahren. Die NZ hat das betreffende Motiv inzwischen gelöscht und nimmt die Entscheidung zum Anlass, künftig noch sensibler bei der Illustration in Berichten über vergleichbare Fälle vorzugehen.Acht der insgesamt 20 öffentlichen Rügen erhielten die „Bild“-Zeitung und deren Online-Portal „Bild.de“. Darüber hinaus hat der Presserat 25 Missbilligungen und 30 Hinweise ausgesprochen und nach eigenen Angaben 128 Beschwerden behandelt. Der Deutsche Presserat ist die freiwillige Selbstkontrolle der Presse.