Bremerhaven Amazon

Das System Amazon: „Moderne Sklaverei“ in Bremerhaven

In der Vorweihnachtszeit macht Amazon jedes Jahr Rekord-Umsätze. Doch die Paketboten leiden - an diesen und an allen anderen Tagen. Wir zeigen auf, wie auch Kurierfahrer aus Bremerhaven ausgebeutet werden und was das System Amazon damit zu tun hat.

Die Zeit rennt - für Paketboten zählt jede Sekunde. Die Nordsee-Zeitung und das Recherchenetzwerk Correctiv zeigen auf, warum die prekären Arbeitsbedingungen von Bremerhavener Amazon-Fahrern keine Einzelfälle sind.

Die Zeit rennt - für Paketboten zählt jede Sekunde. Die Nordsee-Zeitung und das Recherchenetzwerk Correctiv zeigen auf, warum die prekären Arbeitsbedingungen von Bremerhavener Amazon-Fahrern keine Einzelfälle sind. Foto: Lothar Scheschonka

Es ist spät am Abend in Bremerhaven. Jemand klingelt. Sie öffnen und vor Ihnen steht der Amazon-Paketbote. Er streckt Ihnen ein Päckchen entgegen - Sie nehmen es, bedanken sich pflichtschuldig und schließen grummelnd die Tür: Warum müssen die immer so spät kommen?

Währenddessen hastet der Lieferant zu seinem Wagen zurück. Er hat zwischen 10 und 12 Stunden Arbeit hinter sich. Früher waren die Wochen rund um den Black Friday und die Vorweihnachtszeit eine Extremsituation - heute ist das Alltag. Er startet den Motor und drückt ungeduldig aufs Gaspedal. Jetzt muss er noch zum Bremerhavener Verteilzentrum fahren. Dann hat er endlich Feierabend.

Ein Amazon-Fahrer stellt ein Paket in Speckenbüttel zu. Früher waren seine Tage vor allem am Black Friday und in der Vorweihnachtszeit lang. Heute sind zehn bis zwölf Stunden Arbeitszeit Standard.

Ein Amazon-Fahrer stellt ein Paket in Speckenbüttel zu. Früher waren seine Tage vor allem am Black Friday und in der Vorweihnachtszeit lang. Heute sind zehn bis zwölf Stunden Arbeitszeit Standard. Foto: Lothar Scheschonka

Der namenlose Kurierfahrer könnte Dominik Krause, Jake Williams* oder Tim Kuhn* heißen. (*Pseudonyme) Hinter diesen Namen stehen Menschen aus Bremerhaven, die in den vergangenen zwei Jahren bei einem der vielen kleinen für Amazon tätigen Subunternehmen angestellt waren. Sie haben im Auftrag des größten Onlinehandels der Welt Pakete ausgeliefert. Sechs Tage die Woche. Zustellung bis 21 Uhr. Overnight-Express. Schnell, kostenlos, unkompliziert.

Dominik, Jake, Tim - all diese Menschen auf der anderen Seite der Türschwelle sorgen für den Service, der den Kunden das Amazon-Lächeln ins Gesicht zaubert. Doch sie selbst sind selten glücklich bei ihrer Arbeit. Wir konnten mit mehreren Fahrern aus Bremerhaven sprechen.

Was ist ein Subunternehmen?

Unter Subunternehmen versteht man eine Firma, die Aufgabenbereiche eines anderen Unternehmens übernimmt. Das Subunternehmen wird durch das größere Unternehmen beauftragt, arbeitet aber selbstständig.

Kapitel 1

Was haben wir recherchiert?

Gemeinsam mit dem Recherchenetzwerk Correctiv zeigen wir auf, unter welchen Bedingungen diese Menschen arbeiten und warum ihre Fälle keine tragischen Einzelschicksale sind. Denn die Kurierfahrer und Amazon-Experten sind sich einig: Hinter dieser Logistik steht ein System der Ausbeutung - das System Amazon.

Das Unternehmen selbst zeichnet ein Bild von geradezu traumhaften Arbeitsbedingungen. Während die Amazon-Subunternehmer im Raum Bremerhaven entweder nicht reagierten oder kein Statement abgeben wollten, hat der Großkonzern mit einer zwölfseitigen Antwort auf die Fragen der Nordsee-Zeitung und von Correctiv reagiert.

Darin heißt es:

„Wir sind sicherlich noch nicht perfekt und haben als Arbeitgeber noch Potenzial nach oben, aber wir arbeiten jeden Tag daran, stetig Verbesserungen zu erzielen. Dafür hören wir unseren Teams und Partnern zu, nehmen ihr Feedback ernst und arbeiten intensiv daran, ein einladendes, sicheres und integratives Umfeld zu schaffen.“

Amazons Logistik: Das Bremerhavener Verteilzentrum befindet sich auf dem früheren Gelände der Carl-Schurz-Kaserne.

Amazons Logistik: Das Bremerhavener Verteilzentrum befindet sich auf dem früheren Gelände der Carl-Schurz-Kaserne. Foto: Lothar Scheschonka

Ehemalige Amazon-Fahrer aus Bremerhaven nutzen hingegen ganz andere Worte, um ihre Erfahrungen mit dem Großkonzern zu beschreiben:

„Das war einfach eine katastrophale Zeit.“

„Ich hatte das Gefühl, dass jemand mit der Peitsche hinter einem steht und sagt, mach schneller, du bist zu langsam.“

„Das ist moderne Sklaventreiberei.“

Obwohl sie längst nicht mehr für die Subunternehmen arbeiten und teilweise Verschwiegenheitserklärungen unterschrieben haben, wollen sie über ihre Erfahrungen sprechen - „vielleicht ändert sich dann endlich mal etwas“, sagt Dominik Krause.

Kapitel 2

Wie arbeiten die Amazon-Fahrer?

Der Arbeitstag von Amazon-Paketboten beginnt in der Regel zwischen 8 und 11 Uhr morgens im Verteilzentrum Bremerhaven. Meistens haben sie erst am Abend vorher erfahren, ob und wann sie arbeiten müssen. „Die Nachricht kam gegen 21 Uhr in unserer Whats-App-Gruppe“, erinnert sich der 30-jährige Dominik Krause. „Vorher wusste ich nicht mal, ob ich frei haben werde.“ Er ist gelernter Berufskraftfahrer und hat als Angestellter von Kieserling für Amazon Pakete ausgeliefert.

Der gelernte Berufskraftfahrer Dominik Krause (30) war beim Unternehmen Kieserling angestellt und hat für Amazon Pakete ausgeliefert.

Der gelernte Berufskraftfahrer Dominik Krause (30) war beim Unternehmen Kieserling angestellt und hat für Amazon Pakete ausgeliefert. Foto: Luise Langen

Das Bremerhavener Verteilzentrum trägt die Kennzeichnung DNM9 und liegt im Amerikaring 2 im Überseehafen. „Herzlich willkommen bei Amazon in Bremerhaven“ begrüßt ein Banner die ankommenden Paketboten.

Sie fahren mit den Transportern durch die geöffneten Tore ins Innere des großen, grauen Gebäudes. Einige Sprinter tragen den typischen, blauen Amazon-Look, andere einen Kieserling-Schriftzug oder völlig neutrale Lackierungen. Fünf bis zehn Minuten haben die Fahrer in der Ladezone Zeit, um die Autos zu beladen - die Anzahl der Pakete und die Tagesroute wird von Amazon vorgegeben. Dann beginnt ihre Tour.

Drei Minuten

„Es hieß vorher, dass wir unser festes Liefergebiet haben - das war dann aber nicht so“, erzählt Jake Williams. Der 27-Jährige hat knapp ein halbes Jahr für das Subunternehmen RH Kurierservice gearbeitet. Eine abgeschlossene Ausbildung kann er nicht vorweisen - gerade deshalb sieht er in dem Job zunächst eine echte Chance für die Zukunft.

Mit diesen Worten begrüßt der Großkonzern Amazon die Paketboten in Bremerhaven.

Mit diesen Worten begrüßt der Großkonzern Amazon die Paketboten in Bremerhaven. Foto: Luise Langen

Doch der Arbeitsalltag lässt diesen Traum schnell platzen: Immer wieder bekommt er Routen mit bis zu 300 Stopps zugeteilt - „wenn es wirklich scheiße läuft, muss man zwischen 400 und 500 Pakete ausliefern.“ Schon bei durchschnittlichen Touren mit etwa 200 Stopps darf ein Stopp nicht länger als drei Minuten dauern.

Anhalten, Paket aus dem Transporter holen, Paket einscannen, zur Haustür laufen, klingeln, Paket abgeben und zurück ins Auto.

Drei Minuten - das ist sogar auf Jake Williams Standard-Route durch die Wohngebiete mit Einfamilienhäusern in Spaden, Debstedt und Langen sportlich. Aber wenn er Mehrfamilienhäuser in Bremerhaven beliefern soll, ist es völlig unmöglich.

„Bei der Routenplanung wird nicht beachtet, ob eine Wohnung im ersten oder im siebten Stock ist, ob es einen Aufzug gibt und ob in dem Haus mehrere Wohnungen beliefert werden müssen“, sagt auch Tim Kuhn. Der gelernte Landwirt hat gut ein Jahr für das kleine Subunternehmen UFCT gearbeitet, das heute nicht mehr existiert.

Kapitel 3

Wie werden Amazon-Fahrer ausgebeutet?

Immer wieder betont Amazon in seinem Statement, dass die Sicherheit und das Wohlbefinden der Mitarbeiter an oberster Stelles stünden. „Wir verlangen von unseren Mitarbeitern nicht, dass sie bestimmte Arbeitsgeschwindigkeiten oder Produktionsziele erreichen“, beteuert das Unternehmen. „Die Fahrer beenden in etwa 90 Prozent der Fälle ihre Routen pünktlich oder sogar früher.“

Dennoch bekommen die Bremerhavener Paketboten von Amazon regelmäßig Routen mit rund 200 Stopps und 300 Paketen zugeteilt. Und diese Touren sind innerhalb eines gewöhnlichen Acht-Stunden-Tages meist nicht zu schaffen, sind sie sich einig.

Verträge an der Grenze der Legalität

Angesichts solcher Paketmengen stellt sich die Frage: Wie erfüllen die Subunternehmer das Lieferversprechen, das Amazon seinen Kunden gibt? Sie setzen Arbeitsverträge auf, die maximale Leistung von den Fahrern fordern und sich gekonnt an der Grenze der Legalität bewegen. Und wenn das noch nicht ausreicht, treiben sie ihre Mitarbeiter darüber hinaus zu noch mehr Leistung an.

„Es wird sehr viel gefordert, aber es kommt wenig von den Arbeitgebern zurück. Vertraglich waren 40 Stunden vereinbart. Dafür habe ich 1800 Euro brutto bekommen - das war damals Mindestlohn“, sagt Jake Williams. „Aber wir waren immer zwischen zehn und zwölf Stunden unterwegs. Bezahlt wurden die Überstunden nicht.“

In seinem Arbeitsvertrag ist eine Klausel enthalten, nach der 20 Prozent Mehrarbeit mit dem fixen Gehalt abgegolten ist. Doch selbst diese Grenze überschreiten viele Amazon-Fahrer regelmäßig. Angesichts der realen Arbeitszeit verdienen sie oft weniger als Mindestlohn.

Das System Amazon: „Moderne Sklaverei“ in Bremerhaven
Das System Amazon: „Moderne Sklaverei“ in Bremerhaven

Während Jake Williams im Kreis Cuxhaven von einem Haus zum nächsten hetzt, sitzt Dominik Krause noch immer in seinem Lieferwagen. Etwa eine Stunde fährt er zu seinem ersten Stopp in der Wesermarsch - als Arbeitszeit zählt das nicht.

„Ich hab irgendwann erfahren, dass ich nur für die Zeit von meinem ersten bis zu meinem letzten Stopp bezahlt werde“, erklärt der ehemalige Kieserling-Mitarbeiter. „Die Fahrt vom Verteilzentrum ins Liefergebiet und zurück mussten wir dem Unternehmen schenken.“

Die Tour wird immer beendet - egal was passiert

Andere Subunternehmen nutzen andere Mittel, um die Arbeitszeit zu strecken und das Soll zu erfüllen:

Die Amazon-Flex-App auf dem Diensthandy bestimmt den gesamten Arbeitstag der Paketboten. Sie gibt vor, wie viele Pakete die Fahrer wohin liefern sollen. Zu jeder Zeit weiß der Subunternehmer, wo sich seine Fahrer befinden. „Manchmal kriegt man einen Anruf, wenn man zu langsam ist“, erzählt ein Ehemaliger.

Nach 10 Stunden schaltet sich die App dann allerdings ab, damit die Mitarbeiter die gesetzlichen Ruhezeiten einhalten. „Wenn das passiert ist, hat der Chef uns gesagt, wir müssen die Tour trotzdem zu Ende fahren und die Lieferungen auf Papier festhalten“, erzählt Jake Williams. „Die Touren werden immer beendet, egal, was während der Fahrt passiert und egal, wie lange man unterwegs ist.“

Kapitel 4

Wie werden Amazon-Fahrer kontrolliert?

Neben der Amazon Flex-App haben die Fahrer auch die Mentor-App auf dem Firmenhandy. Die erfasst das Fahrverhalten der Paketboten - wenn sie beschleunigen oder abbremsen und ob ihr Handy in der Handyhalterung steckt. „Es gibt ein Punktesystem, und wenn man das Handy mal auf dem Beifahrersitz liegen lässt, dann hat das sofort Einfluss auf die Mitarbeiterbewertung am Ende des Monats“, sagt Jake Williams.

Das Problem mit dem lernenden Algorithmus

Beide Apps kommen von Amazon, und beide Apps werden als Hilfestellungen dargestellt. Doch die Amazon-Experten Tina Morgenroth vom Beratungsnetzwerk „Faire Mobilität“ und Nonni Morisse von der Gewerkschaft Verdi haben Zweifel, dass diese Überwachung im Sinne der Mitarbeiter ist.

Nonni Morisse erklärt:

„Eine Schwierigkeit an der Flex-App ist, dass das ein lernender Algorithmus ist. Der berechnet die Zeiten für die Zustellung der Pakete. Laut Amazon ist das dafür gedacht, dass Mitarbeiter, die unterschiedlich schnell arbeiten, eine angemessene Paketmenge zugeteilt bekommen. Aber die Subunternehmer werden von Amazon enorm unter Druck gesetzt und die geben den Druck an ihre Beschäftigten weiter, damit sie schneller arbeiten. Und wenn sie schneller arbeiten, dann trainiert dieser Algorithmus sich zu einer größeren Paketmenge.“

Die Amazon-Flex-App auf dem Diensthandy bestimmt den gesamten Arbeitstag der Paketboten. Diese hier zeigt: 308 Stopps musste dieser Fahrer einlegen, um seine Pakete auszuliefern.

Die Amazon-Flex-App auf dem Diensthandy bestimmt den gesamten Arbeitstag der Paketboten. Diese hier zeigt: 308 Stopps musste dieser Fahrer einlegen, um seine Pakete auszuliefern. Foto: Privat

Weder der Einsatz dieser Apps noch die anderen Erfahrungen der Bremerhavener Fahrer sind Einzelfälle, bestätigen die beiden Amazon-Experten. In ganz Deutschland berichten die Paketboten von Arbeitstagen ohne Pause, überladenen Fahrzeugen, Übermüdung, Überwachung und unbezahlten Überstunden. Aber warum wehren sich die Mitarbeiter eigentlich nicht gegen derart ungerechte Arbeitsbedingungen?

Kapitel 5

Was passiert, wenn Mitarbeiter sich wehren?

„Untereinander haben wir uns immer aufgeregt und darüber nachgedacht, einen Betriebsrat ins Leben zu rufen. Aber wenn man unseren Chef konfrontiert hat, was da falsch läuft, kam von seiner Seite nur: ,Dann suche ich mir halt ein paar Schwarzköpfe, die ihre Rechte nicht kennen'“, erzählt ein ehemaliger Amazon-Fahrer.

Druck, Drohungen und Rassismus

Dieser Satz ist rassistisch. Er zeigt aber auch einen weiteren Grund für die üblen Arbeitsbedingungen bei den Paketzustellern auf: Tatsächlich arbeiten dort überwiegend Menschen mit Migrationshintergrund - Menschen, die kaum der deutschen Sprache mächtig sind und sich dementsprechend nicht wehren können.

Das Beratungsnetzwerk „Faire Mobilität“ schätzt den Anteil auf etwa 90 Prozent. „Es sind hohe Zahlen, weil die Leute direkt in den Herkunftsländern angeworben werden. Weil vielleicht auch die Subunternehmer selbst Rumänen, Bulgaren oder Polen sind und es eine Möglichkeit der Verständigung gibt. Und weil die in einer sehr viel schlechteren Verhandlungsposition sind“, erklärt Tina Morgenroth.

Dominik Krause, Jake Williams und Tim Kuhn zählen zu den rund 10 Prozent der Mitarbeiter, die in Deutschland aufgewachsen sind. Sie sprechen fließend Deutsch, aber auch sie haben Schwierigkeiten, ihre Rechte durchzusetzen.

Rabatte und Schnäppchen: Rund um den Black Friday und den Amazon Prime Day bestellen auch die Menschen in der Region Bremerhaven besonders viel.

Rabatte und Schnäppchen: Rund um den Black Friday und den Amazon Prime Day bestellen auch die Menschen in der Region Bremerhaven besonders viel. Foto: Lothar Scheschonka

„Zweimal habe ich dem Chef gesagt, dass ich diese Stopps aus gesundheitlichen Gründen nicht schaffe. Dann wird man verglichen mit anderen Fahrern: Warum schaffen die das und du nicht?“, erinnert sich Dominik Krause. „Und es wird indirekt mit Kündigung gedroht. Da kommen Sätze wie: ,Du musst schauen, wie du das schaffst, ansonsten machst du das halt nicht mehr.'“

Kapitel 6

Was passiert, wenn Mitarbeiter nicht genügend Leistung bringen?

Viele Subunternehmer entlassen regelmäßig Mitarbeiter innerhalb der Probezeit von sechs Monaten, beobachten die beiden Amazon-Experten. „Das hat oft damit zu tun, dass diese Mitarbeiter nicht die erwünschte Leistung bringen“, sagt Tina Morgenroth.

Dominik Krause arbeitet nur anderthalb Monate bei Kieserling, dann wird er unangemeldet aus der gemeinsamen Dienstplan-WhatsApp-Gruppe geworfen. Kurz zuvor hat er sich wegen massiver Magenprobleme krankschreiben lassen. Als er wegen der Schmerzen im Krankenhaus ist, wird ein beunruhigender Fleck auf der Lunge gefunden, erzählt er.

Krankmeldung unmöglich: Paketbote hat einen Nervenzusammenbruch

„Ich musste deswegen zum MRT und als ich mich dafür nochmal krankmelden wollte, wurde mir gesagt, dass das nicht geht“, so der Bremerhavener. Kurz danach findet Dominik Krause die Kündigung im Briefkasten. Aber immerhin die Magenschmerzen sind danach verschwunden. Viele der ehemaligen Fahrer berichten von Magenbeschwerden - sie führen das auf den Arbeitsstress zurück.

Jake Williams wird kurz vor dem Ende der Probezeit gekündigt. Auch er hat sich krank gemeldet - wegen eines Todesfalls in der Familie: „Ich war deswegen im Büro und da wurde ich so fertig gemacht, dass ich danach mit einem Nervenzusammenbruch in der Halle saß. Und genau in diesem Moment drückt mir der Chef das Kündigungsschreiben in die Hand.“

Kapitel 7

Warum setzt Amazon auf Subunternehmen?

All diese persönlichen Leidensgeschichten sind kein Zufall, sondern haben System. Wenn Sie auf „Jetzt kaufen“ klicken, setzt Amazon eine gut durchdachte Maschine in Gang.

Es beginnt in einem von 20 Logistikzentren in Deutschland - dort lagert die Ware, die von Mitarbeitern verpackt und verschickt wird. Lkw-Fahrer bringen die Pakete in eines von 69 lokalen Verteilzentren. Einige Pakete machen vorher einen Abstecher in ein Sortierzentrum, bevor sie ebenfalls in die Verteilzentren gebracht werden. Und von dort aus liefern Kurierfahrer die Bestellung bis vor die Haustür.

Doch die Maschinerie wird nur zu einem Teil durch Amazon-Mitarbeiter betrieben. In Bremerhaven und in ganz Deutschland wirbt der Konzern Menschen an, die im Auftrag von Amazon ein Subunternehmen gründen sollen. Sie bekommen Schulungen, Fahrzeuge, Technologie und 10.000 Euro Startkapital gestellt. Viel mehr als weitere 15.000 Euro benötigt man nicht, um Subunternehmer zu werden.

Doch das macht Amazon nicht aus uneigennütziger Nächstenliebe. Das System hat Vorteile für den Online-Riesen.

Amazon kann dadurch die Verantwortung für das Wohl der Fahrer von sich schieben. Es ist ein flexibles und kostengünstiges System. Wenn ein Subunternehmen ausfällt, liefern die anderen weiter.

Der Großkonzern schiebt die Verantwortung von sich

„Es geht um einen Kontrollmechanismus: Mitbestimmung fällt schwerer, wenn es viele kleine Unternehmen gibt. In einem großen Unternehmen gäbe es vielleicht Betriebsräte und die Menschen würden um Tarifverträge kämpfen“, fügt Tina Morgenroth vom Beratungsnetzwerk „Faire Mobilität“ hinzu.

Auf die lange Liste der Mitarbeiter-Vorwürfe reagiert Amazon mit deutlichen Worten: „Wir verlangen von allen Unternehmen in diesem Netzwerk, dass sie sich an unsere Richtlinien und alle geltenden Gesetze und Vorschriften halten. Das von Ihnen beschriebene Szenario sollte niemals der Fall sein und wir würden ein solches Verhalten unseres Partners nicht tolerieren.“ Dass es sich dabei nicht um Einzelfälle innerhalb eines Subunternehmens handelt, ignoriert der Konzern.

Nicht nur die Fahrer stehen unter Druck. Auch die Führungskräfte der Subunternehmen haben Angst, dass Amazon ihre Firma austauscht.

Nicht nur die Fahrer stehen unter Druck. Auch die Führungskräfte der Subunternehmen haben Angst, dass Amazon ihre Firma austauscht. Foto: Lothar Scheschonka

Wie wenig Amazon auf die einzelnen Subunternehmen angewiesen ist, wird auch angesichts der hohen Fluktuation deutlich. „Amazon wechselt seine Subunternehmen wie andere ihre Unterwäsche“, stellt der ehemalige Fahrer Tim Kuhn fest. Nur wenige halten sich so lange wie Kieserling oder RHK in Bremerhaven. Beide Unternehmen gibt es länger als zwei Jahre.

Im Gespräch mit Subunternehmern aus dem Bremerhavener Umfeld wird deutlich: Selbst die Inhaber leiden unter Amazon. Sie stehen unter Druck, das Lieferpensum zu erfüllen. Sie haben Angst, ausgetauscht zu werden, wenn öffentlich wird, unter welch prekären Bedingungen ihre Fahrer arbeiten. Sie wissen, dass auch ihr kleines Subunternehmen für den weltumspannenden Konzern nur eine Nummer ist.

Kapitel 8

Was muss sich ändern?

Viele der Probleme, von denen Amazon-Fahrer berichten, gab es vorher und gibt es auch in anderen Unternehmen. „Aber Amazon hat sich von allem das profitabelste herausgesucht und daraus ein System geschaffen“, sagt Tina Morgenroth.

Auch Nonni Morisse sieht darin das Kernproblem: „Im System von Amazon gibt es so gut wie keinen Spielraum in den unteren Ebenen. Selbst die unteren Führungskräfte unterliegen dem System. Sie haben kaum die Möglichkeit, ihren Mitarbeitern einen menschenwürdigen Umgang und eine angenehme Arbeitsatmosphäre zu bieten.“

Amazon ist attraktiv

Deshalb fordert Verdi, dass in der Paketbranche Werkverträge und Subunternehmertum verboten werden. Das halten auch viele der ehemaligen Amazon-Fahrer aus Bremerhaven für eine gute Idee.

„Es muss ja was politisch gemacht werden, weil die Leute weiterhin bei Amazon kaufen werden“, sagt Tim Kuhn. Selbst die Fahrer bestellen ab und zu bei dem Onlineversandhändler: „Es ist einfach diese schnelle Lieferung - ich bestelle heute und morgen ist es da - das macht Amazon so attraktiv.“

Melden Sie sich ...

Sie waren oder sind selbst direkt bei Amazon oder einem für den Konzern tätigen Subunternehmen angestellt und wollen über Ihre Erfahrungen sprechen? Dann melden Sie sich bei luise.langen@nordsee-zeitung.de.

Was ist Correctiv?

Correctiv ist ein gemeinnütziges Recherchenetzwerk in Deutschland. Die Redaktion hat ihren Hauptsitz in Essen und finanziert ihre investigativen Recherchen durch Spenden.


Das System Amazon: „Moderne Sklaverei“ in Bremerhaven

Hier findest die aufwändig recherchierte und toll inszenierte Mutimedia-Reportage auf correctiv.de. Sie erzählt die Geschichte eines Paketes von der Bestellung bis zur Auslieferung und veranschaulicht das Innenleben des Paket-Giganten Amazon mit anschaulichen Grafiken.


Luise Maria Langen

Reporterin

Luise Langen arbeitet seit 2020 als Reporterin für die NORDSEE-ZEITUNG. Von guten Geschichten war die gebürtige Berlinerin aber schon immer begeistert – auch während ihres Germanistik-Studiums in Österreich und der Zeit als Regieassistentin am Stadttheater Bremerhaven.

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