NORD|ERLESEN Ekaterina-Mord

Geliebt, erwürgt, zerstückelt: Das Drama um Ekaterina

Was für ein Drama. Was für Abgründe. Und was für ein Prozess. Neun Monate wurde am Landgericht Bremen um die Frage gerungen: Wer hat Ekaterina B. umgebracht? Wir fassen den ungewöhnlichen Fall zusammen. In besonderer Weise.

Sie war schön, ihr Leben aber war es nicht. Und es endete denkbar grausam: Ekaterina B. aus Bremerhaven wurde erwürgt, zerteilt, dann geradezu weggeworfen.

Sie war schön, ihr Leben aber war es nicht. Und es endete denkbar grausam: Ekaterina B. aus Bremerhaven wurde erwürgt, zerteilt, dann geradezu weggeworfen. Wir fassen den tragischen Fall um Ekaterina in einem True Crime Special zusammen. Foto: Gausmann/Schnibbe

Der Fall

Am 4. Februar 2022 verschwindet in Bremerhaven Ekaterina B. Quälende 25 Tage gibt es keine Spur von der bildhübschen Russin, die mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter in der Stadt an der Wesermündung lebte. In Liebe, aber immer öfter auch durch Streit verbunden.

25 Tage wird nach der 32-Jährigen gesucht – von der Polizei und von Hunderten Freiwilligen. Bis die Flut am 1. März am Deich von Bremerhaven einen großen schwarzen Koffer anspült. Die Polizei findet darin die Leiche der jungen Frau – grausam zerstückelt.

Noch am selben Tag wird ihr Mann (damals 45) von der Kriminalpolizei Bremerhaven festgenommen. Im Juni 2022 wird er des Mordes an seiner Frau angeklagt. In dem zehn Monate währenden Mordprozess am Landgericht Bremen schweigt er lange Zeit. Statt seiner legt seine Mutter im Zeugenstand ein Geständnis ab: Sie will ihre Schwiegertochter ermordet und zerstückelt, dann mit Hilfe ihres Sohnes beseitigt haben.

Gleichwohl bleibt die Frau frei. Das Gericht glaubt ihr nicht. Es vermutet offenbar: Die Mutter will ihren geliebten Sohn mit einem falschen Geständnis retten, will für ihn ins Gefängnis gehen. Sie will einen Mann schützen, der vor dem Verschwinden seiner Frau tagelang etwa danach googelte, wie ein Körper in Säure aufgelöst werden kann. 

Lange ist unklar, ob die Indizien für einen Schuldspruch gegen Ekaterinas Gatten ausreichen. Am 23. Mai 2023 aber fällt das Schwurgericht sein Urteil: Lebenslang für Ekaterinas Mann – für den Mord an seiner geliebten Frau.

Für den Mord, den auch seine Mutter begangen haben will.

Reporter von Nordsee-Zeitung.de haben den beklemmenden Fall von der ersten Vermisstenmeldung bis zum Urteil 15 Monate später konstant begleitet. Wir waren bei der Suche dabei, bei jedem der 44 Verhandlungstage. Wir sprachen mit Bekannten und Verwandten, mit Ermittlern und Betreuern, mit Juristen und Gutachtern.

Wir schildern in diesem True Crime Special zusammenfassend das Drama um Ekaterina, um ihre Tochter, um ihren Mann und um ihre Schwiegermutter. Von der Vorgeschichte bis zum Schuldspruch.

Unsere Schilderung beruht auf den Angaben vor und während des Prozesses sowie auf eigenen Recherchen.

Die Familie

Das Paar

Ekaterina stammt aus Russland, ihr 13 Jahre älterer und wie seine Mutter in Bremerhaven lebender Mann ursprünglich aus Kasachstan. Beide lernen sich 2010 in einem Urlaub in der Türkei kennen. Aus ihrem Urlaubsflirt wird eine große Liebe.

Schon nach ein paar Monaten siedelt Ekaterina von St. Petersburg nach Bremerhaven um. Sie heiratet ihren Mann. Das Paar lebt im Bremerhavener Stadtteil Wulsdorf, in einem gepflegten Einfamilienhaus in einer ruhigen Spielstraße. Rote Klinker, schwarzes Dach, weiße Rollladen.

Ihr Hochzeitsfoto vermittelt ein glückliches Bild: Er wirkt wie ein Mann, der seiner jungen Frau Halt gibt. Sie schmiegt sich zärtlich an ihn, lächelt selig.

Alles sieht so aus, als hätten sich zwei füreinander bestimmte Menschen gefunden und es geschafft. Ein Psychiater stellt später im Prozess fest: Sie haben nie zueinander gepasst.

Da waren sie noch glücklich: Ekaterina und ihr Mann nach ihrer Hochzeit, aufgenommen im Bürgerpark in Bremerhaven. 2022 wird er angeklagt, seine Frau erwürgt, zerstückelt und regelrecht entsorgt zu haben. Foto: Facebook

Ekaterina

Ekaterina wird als kluge, attraktive und temperamentvolle Frau, als offener Mensch beschrieben. Sie ist eine liebevolle Mutter und steht in engem Kontakt zu ihrer Familie in Russland und zu Freunden in Bremerhaven. Sie setzt ihr in Russland begonnenes Studium der Betriebswirtschaft in Deutschland fort, geht gerne joggen, macht Yoga, sucht ruhige Orte im Grünen auf.

Mit beiden Beinen im Leben aber steht sie nicht. Familienhelferinnen lernen sie nach zehn Jahren in Deutschland als unselbstständige Frau kennen. Wie sie Geld abhebt, weiß sie angeblich nicht; ihr Ehemann teilt es ihr zu. Die Helfer finden: Ekaterina ist naiv und überfordert mit Alltag und Haushalt. Sie lebt oft in den Tag hinein. Als sie verschwindet, ist ein Gutachten in Arbeit, ob sie überhaupt fähig ist, ihr Kind zu erziehen.

Die Familienanwältin ihres Mannes sagt: Ekaterina ist damit überfordert gewesen, sich um ihr Kind zu kümmern. Ihr Verhalten charakterisiert sie als „sprunghaft, rätselhaft, merkwürdig“.

Ein Gutachter meint nach dem Studium der Gerichtsakten, dass sie narzisstische Züge hatte.

Ekaterinas Mann

Ekaterinas Ehemann ist ein Hüne von Kerl. Er ist zur Tatzeit 45 Jahre, arbeitet im Hafen vom Bremerhaven auf dem Autoterminal. Kollegen beschreiben ihn als „hervorragenden Operator“, aber auch als aggressiv, anstrengend, zu Diskussionen neigend, unbeliebt. „Er war sehr stressig und penetrant“, sagt ein Ex-Kollege.

Ein ehemaliger Freund beschreibt ihn als intelligent. Als einen Strategen mit dem Drang zum Dramatisieren. Als jemanden, der Menschen manipulieren kann. Er gilt auch als geizig. Geld ist ihm wichtig.

Bis wenige Monate vor dem Verschwinden seiner Frau malocht der Mann hart und viel, macht Überstunden und Doppelschichten. Auch an den Wochenenden geht er oft arbeiten.

Auch die Familienhelferinnen erleben ihn als unausgeglichen. Er wirkt auf sie oft nervös und ungeduldig. Sie spüren unterdrückte Wut. Sie schlagen ihm deshalb ein Anti-Aggressionstraining vor.

Der Psychiater Dr. Marc Schröder kommt im Prozess zu dem Schluss: Ekaterinas Mann hat eine narzisstische Persönlichkeitsstörung. Er kann also kaum die Gefühle anderer lesen – und er denkt, dass er überlegen und besonders ist.

Vom Verhalten eines Stalkers spricht eine Psychologin des Jugendamtes Bremerhaven, die die Familie länger betreute: „Er hat zehnmal angerufen am Tag.“ Ihr Zeitkontingent für diesen Fall wird „völlig gesprengt“.

Die Tochter

Das zierliche Einzelkind mit den langen blonden Haaren wächst überbehütet auf – des Vaters wegen. Den Kindergarten besucht es nicht durchgängig. Lange spricht das in Deutschland geborene Kind nur wenig Deutsch.

Eine für das Gericht per Video aufgezeichnete einfühlsame Befragung der Fünfjährigen zeigt: Das Mädchen hat früh realisiert, dass sich ihre Eltern „nicht so gut verstanden“ haben. Sie erinnert sich: Die Mama schreit, geht oft weg. Das Mädchen sagt auch: „Mit Papa habe ich mich besser verstanden.“ Fast alles hat sie mit ihm gerne gemacht.

Im Februar 2022 verliert sie nicht nur die Mutter, sondern auch den Vater: Seit seiner Festnahme haben sie sich nicht mehr gesehen. Das Kind lebt, auch von den Großeltern abgeschirmt, in einer Wohngruppe für traumatisierte Kinder.

Der Mann und sein Töchterchen

Ekaterinas Mann liebt sein einziges Kind abgöttisch, ist dabei angstgesteuert. Er lässt es nicht aus den Augen, erträgt es nur schwer, nicht mit ihr in einem Raum zu sein. Er halbiert seine Arbeitszeit im Hafen, um mehr für seine Tochter da sein zu können. Er bringt das Mädchen in den Kindergarten und holt es wieder ab. Er kocht für sie. Nachts schläft sie im Zimmer der Eltern.

Seine Familienanwältin sagt: Der Mann hat nur seine Tochter im Kopf gehabt. Eine Psychologin spricht im Prozess von einem „psychischen Missbrauch“ des Kindes durch den Mann, der sich „als den bestmöglichen Vater wahrgenommen“ hat. Mit seinen Verlustängsten hemmt er nach Meinung der Experten die Entwicklung seines Kindes. Das kleine Mädchen ist deshalb bereits vor dem Verschwinden von Ekaterina in Therapie.

Die Mutter des Mannes

Die ersten 38 Jahre ihres Lebens verbringt die spätere Schwiegermutter von Ekaterina in Kasachstan. Ihre Familie stammt von Wolgadeutschen ab. Die Einser-Schülerin wird erst Chemisch-Technische Assistentin, später Chemie-Ingenieurin, dann Lehrerin an einem Gymnasium. Sie heiratet mit 18, bekommt einen Sohn. Er wird der wichtigste Mensch in ihrem Leben. Bis heute verbindet beide eine enge Beziehung.

1994 wandert sie mit ihrer Familie nach Deutschland aus. Bremerhaven wird ihre neue Heimat. 2001 findet sie dort eine gute Stelle am namhaften Alfred-Wegener-Institut. Dort geht sie als Chemisch-Technische Assistentin mit auf rund 25 Expeditionen – oft in der Arktis.

Ihre Migrationsgeschichte gilt als exemplarisch für die Lebenswege vieler Einwanderer nach Deutschland. Deshalb hängt ein metergroßes Bildnis von ihr neben 30 anderen Porträts an der Fassade des Auswandererhauses in Bremerhaven. Ein Reporter der Nordsee-Zeitung interviewt sie deshalb zwei Stunden, lange vor dem Mord. Noch heute erinnert er sich positiv an sie: Die Frau, „die viel geleistet hat“, wirkt ausgesprochen warmherzig auf ihn.

Die Mutter des Angeklagten: Sie stammt aus Kasachstan, wird dort Chemie-Ingenieurin, später Lehrerin. In Bremerhaven arbeitet sie im renommierten Alfred-Wegener-Institut. Mit ihrem Sohn ist sie innigst verbunden, mit ihrer Schwiegertochter Ekaterina hatte sie oft Konflikte. Foto: Arnd Hartmann

Die Mutter und ihr Sohn

Er ist das einzige Kind seiner Mutter. Psychologen sagen: Eine natürliche, gesunde Distanz zu ihrem Sohn fehlt ihr. Sie hingegen wird eher von einer starken Mutterliebe sprechen.

Sie hat schon immer viel für ihren Sohn getan.

Als Junge stürzt er von einem Baum, kann lange nicht zur Schule gehen. Seine Mutter wechselt deshalb die Schule, um nachmittags statt seiner die wichtigsten Unterrichtsstunden besuchen zu können. Danach vermittelt sie ihrem Jungen den Stoff – „damit er kein Jahr verlor“.

Auch als ihr Sohn längst erwachsen ist, heiratet und in Bremerhaven eine eigene Familie gründet, bleibt sie ihm nahe. Ekaterina und ihr Mann leben anfangs mit seinen Eltern in einem Haus. Die Mutter steht ihrem Sohn zu nahe – finden Bekannte. Einer nennt sie später „Übermutter“. Eine Frau, die noch stärker als er alles kontrollieren will.

Helfer der Behörden teilen diese Sicht: Die Schwiegermutter hat das Sagen in der Familie, erinnern sie sich. Sie bestimmt, was ihr Sohn zu tun und zu sagen hat. Als seine Ehe heftig kriselt und das Jugendamt wegen des Kindes eingreift, begleitet sie ihren Sohn häufig zu den Treffen. Die Helfer raten ihm auch deshalb, einen Psychiater zu konsultieren.

Mutter und Sohn telefonieren ungewöhnlich oft, kommunizieren auch per Handy extrem häufig. Der komplette WhatsApp-Chat zwischen Mutter und Sohn füllt 1.699 Seiten der Ermittlungsakten.

Die Frau genießt diese Nähe. Eine Kommissarin erinnert sich an folgende Worte der Mutter: Ihr Sohn ist „wie ein Vater“ für sie – so rührend kümmere er sich um sie. Und: Wenn ihr Sohn ihr sagte, was sie tun solle, dann mache sie das auch.

Die Ermittlerin empfindet das als „abgöttische Liebe“.

Ekaterina und ihre Schwiegermutter

Mit ihrer Schwiegermutter (zur Tatzeit 65) hat es Ekaterina nicht leicht. Die Mutter mischt sich in die Ehe ihres Sohnes ein. Sie kritisiert Ekaterina. Sie macht ihr den Vorwurf, keine gute Hausfrau zu sein. Bekannte sagen: Die junge Frau hatte bei ihrer Schwiegermutter nie eine Chance.

Ekaterina hadert damit, aber sie fügt sich auch. Betreuerinnen fällt auf: Im Haus ist Ekaterina gut gestylt. Wenn sie das Haus verlässt, verwandelt sich die bildhübsche Frau zu einer grauen Maus. Weil sie sich sonst von ihrer Schwiegermutter anhören muss, dass sie „wie eine Nutte“ herumläuft. Die Mutter ihres Mannes sagt aber auch: „Sie war wie eine eigene Tochter für mich.“

Als Ekaterina verschwunden ist und die Polizei sie dazu befragt, macht die Schwiegermutter nie den Eindruck, in Sorge um ihre Schwiegertochter zu sein.

Die Vorgeschichte

Ihre Ehe

Ekaterinas Mann will seiner jungen, aparten Frau ein unbeschwertes Leben bieten. Der deutlich ältere Mann trägt sie auf Händen. Beide reisen viel, wünschen sich ein Kind. 2016 bekommt das Paar eine Tochter. Sie ist fünf Jahre alt, als Ekaterina verschwindet.

Ihr Familienglück scheint perfekt. Lange hält das Idyll allerdings nicht. Ekaterinas Ehe mutiert zwei, drei Jahre nach der Geburt des Kindes zur Hölle. Vor Gericht wird später durch die Aussagen der Familienhelfer bekannt: Es gibt oft Streit. Um das Essen. Um das Einräumen des Geschirrspülers. Um die richtige Erziehung der Tochter. Und wegen Ekaterinas Schwiegermutter. Die junge Frau findet: Seine Mutter mischt sich zu sehr in ihre Ehe ein, ist zu oft im Haus.

Ende 2019 werden die Behörden das erste Mal auf die Familie aufmerksam. Es geht um häusliche Gewalt; der Fall verläuft aber schnell im Sande. Das Ehepaar signalisiert einem Sozialarbeiter: Wir vertragen uns wieder.

Doch Ekaterina und ihr Mann machen sich weiter gegenseitig schlecht, überschütten sich mit Vorwürfen – auch vor ihrem Kind. Ekaterina kann nicht schlafen, ihr Mann fotografiert und filmt sie heimlich, nimmt Streit-Szenen zum Beweis mit dem Handy auf. Einen Computerexperten im Bekanntenkreis fragt er: Kannst Du Ekaterinas Handy knacken? Der lehnt ab.

Der Mann beschuldigt seine Frau, keine gute Mutter und psychisch krank zu sein. Seine Frau wirft ihm vor, kein Interesse mehr an ihr zu haben, zu viel zu arbeiten und überfordert zu sein. Sie wünscht sich ein weiteres Kind, er aber soll Sex mit ihr abgelehnt haben.

Die Konflikte des Paares sind heftig: Türen fliegen so sehr, dass sie aus den Angeln reißen, Möbel werden zerstört. Ihr Mann soll sie geschlagen und ihr die Ausweispapiere abgenommen haben.

Ab 2019 steht regelmäßig die Polizei vor dem Haus. Es folgen Anzeigen, ein Gewaltschutzverfahren, zwei Aufenthalte im Frauenhaus, Hilfsprogramme der Sozialbehörden.

Bei einem Treffen des Paars mit dem Familien-Krisendienst ist die Rede davon, dass ihr Mann sie bei einem Streit gewürgt hat. Er spricht von einem „Klaps auf den Po“, sie berichtet von „Atemnot“ – und von seiner Drohung, sie umzubringen und in die Weser zu werfen.

Aus dem Frauenhaus kehrt Ekaterina jedes Mal zu ihrem Ehemann zurück – einmal nach wenigen Wochen, einmal nach Monaten. Nach den Worten ihrer Familienhelferin tat sie dies wahrscheinlich aus Naivität, aus Bequemlichkeit und wegen ihrer finanziellen Abhängigkeit.

Es wird ein ständiges Hin und Her: Versöhnung für drei Tage, dann wieder Krise für die nächsten Tage. Nach Einschätzung einer Betreuerin ist Ekaterina zerrissen von ihren Gefühlen: Soll sie sich von ihrem Mann trennen oder nicht? Beinahe täglich ändert die Frau ihre Meinung. Ihrem Mann sagt sie auf die Frage, ob er noch eine Chance hat: „Wir können ja eine Münze werfen.“ Vor Gericht meint er: Ekaterina war psychisch instabil – und sexbesessen.

Im Sommer 2021 spricht Ekaterina mit ihrer Mutter über ihren Wunsch, sich scheiden zu lassen. Sie bittet ihre Eltern um finanzielle Unterstützung. Ekaterina sucht eine Wohnung in Bremerhaven, Bremen oder Niedersachsen, bekommt aber nur Absagen.

Ihr Ringen um das Kind

2020: Als ihr Töchterchen vier Jahre ist, streiten sich Ekaterina und ihr Mann vor ihrem Kindergarten so heftig, dass das Jugendamt alarmiert wird. Dem zerstrittenen Paar wird „Unterstützung in Erziehungsfragen“ zuteil. Sechs Wochen lang soll eine Erzieherin des Familien-Krisendienstes die Familie begleiten und dabei das Wohl des Kindes im Blick haben. Daraus werden vier Monate.

Die Helferin ist jeden Tag gefordert. „Der Verbleib bei den Eltern war zu gefährlich für das Kind“, erinnert sich die Erzieherin im Prozess. Erst soll die Vierjährige zu Pflegeeltern, dann nahmen die Großeltern ihre Enkelin vorübergehend bei sich auf.

2021: Die Ehe scheint am Ende. Im Frauenhaus berichtet Ekaterina: Ihr Mann wolle sie ermorden. Die Helfer wollen das fünfjährige Mädchen in einem Kinderheim unterbringen. Eine Psychologin des Jugendamtes beschreibt die Situation als „sehr bedrückend“.

Neben dem Jugendamt sind auch die Familienhilfe und der soziale Dienst eingeschaltet. Die Helfer schnüren „ein Komplett-Paket“ für die zerfallende Familie.

Ekaterina stimmt der Inobhutnahme ihrer Tochter durch das Jugendamt zu, ihr Mann und die Schwiegermutter nicht. Deshalb sollen sich beide Eltern um ihr Kind kümmern – ein paar Tage bleibt es beim Vater, ein paar Tage bei der Mutter im Frauenhaus. Immer abwechselnd und mit der Auflage versehen: Das Mädchen muss einen Kindergarten besuchen, um Deutsch zu lernen. Nach ein paar Wochen lebt die Familie dann doch wieder komplett in ihrem Haus in Wulsdorf. Ekaterina hatte Streit im Frauenhaus, brachte sich dort nicht in die Gemeinschaft ein.

Die Scheidung soll in der Folgezeit immer wieder Thema gewesen sein. Allerdings will der Ehemann die innig geliebte Tochter nicht mit seiner Frau gehen lassen – aus Sorge, dass dann beide nicht zurückkehren. „Er hatte furchtbare Angst, seine Tochter für immer zu verlieren“, sagt ein Bekannter.

Ekaterinas Ausbruch aus ihrer Ehe und ihre Affäre

Immer stärker wird Ekaterinas Wunsch, zurück nach Russland zu gehen. Ihr Mann bleibt dabei: Nicht mit meiner Tochter. Über den Jahreswechsel 2021/2022 reist Ekaterina deshalb allein nach St. Petersburg.

Die attraktive junge Frau trifft dort erneut einen russischen Mann, den sie im Internet kennengelernt und 2021 bereits ihrer Mutter vorgestellt hat. Er stammt aus der sibirischen Stadt Omsk, ist Pilot bei der russischen Luftwaffe. Sie möchte mit ihm ein neues Leben beginnen.

Ekaterinas Reise nach St. Petersburg fällt in eine Zeit, in der sich erneut eine Familienhelferin um sie, ihren Mann und ihr Töchterchen kümmert – vier Monate lang, zehn Stunden pro Woche. Sie berichtet vor Gericht, dass sich Ekaterina nach ihrer Rückkehr Mitte Januar auffällig verändert hat: War sie vorher „natürlich schön“, schminkt sie sich nun, lackiert sich die Nägel. „Sie war viel selbstbewusster, viel offener.“

Was Ekaterina bei ihrer Rückkehr nicht ahnt: Sie hat nur noch rund drei Wochen zu leben.

Bis zu ihrem Tod stehen Ekaterina und der Pilot ständig in Kontakt. Noch am Tag ihres Verschwindens schicken sie sich viele Liebes-Botschaften: Fotos, Text- und Sprachnachrichten.

Die Suche

Das Verschwinden von Ekaterina

Am Abend des 4. Februars 2022 hat der Pilot den letzten Kontakt mit der 32-jährigen Ekaterina. Dann fehlt von der jungen Mutter für 25 lange Tage jede Spur. Eine Mitarbeiterin der Familienhilfe und ihr Mann melden Ekaterina als vermisst.

Die Suche der Polizei nach Ekaterina

Am 12. Februar 2022 bittet die Polizei Bremerhaven öffentlich um Unterstützung bei der Suche nach Ekaterina. „VERMISST!“ prangt auf den Plakaten. So wird sie beschrieben:

Größe: 163 cm
Augenfarbe: Grün
Sie hat längere, braune Haare.
Sie spricht Deutsch und Russisch.

Diese Worte stehen neben dem letzten Selfie der hübschen jungen Frau. Sie dürfte es ihrem Geliebten geschickt haben. Es zeigt sie fröhlich, natürlich, offen – und sie trägt einen rosafarbenen Schal.

Auf den Aufruf gehen so viele Hinweise ein, dass 30 Polizisten das Verschwinden der Frau untersuchen. Ihr Ehemann wird das erste Mal festgenommen – für einen Tag. Die Ermittlungsgruppe „Ekaterina“ wird gegründet. Ihr gehören auch russisch sprechende Polizisten an. Bald wird auch die Polizei im benachbarten Niedersachsen in die Suche nach Ekaterina eingebunden.

Die Polizei startet mehrere intensive Sucheinsätze. Daran beteiligen sich auch Beamte der Bereitschaftspolizei Bremen, eine Polizeihundertschaft aus Bremen und Polizeianwärter.

Suchhunde aus Braunschweig, Osnabrück und Lüneburg werden angefordert, Boote und eine Drohne mit Wärmebildkamera kommen zum Einsatz. Eine auf die Suche im Wasser spezialisierte Einheit des Technischen Hilfswerks aus Sachsen-Anhalt sucht mit einem Sonar den Grund der Weser ab.

Alle Suchanstrengungen bleiben ergebnislos. Am 23. Februar fahndet die Polizei mit der Hilfe der ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY ungelöst“ deutschlandweit nach Ekaterina.

Die aufwändige Fahndung: Tagelang suchen im Februar 2022 Hunderte von Polizisten in und um Bremerhaven nach der vermissten Ekaterina. Foto: Lothar Scheschonka

Die Suche von Bürgern nach Ekaterina

Das rätselhafte Verschwinden von Ekaterina beschäftigt die Menschen in der Stadt und weit darüber hinaus. In der Hoffnung auf Hinweise hängen Freunde und Bekannte überall in Bremerhaven Suchplakate auf.

Frauen, die Ekaterina gar nicht kannten, gründen eine Suchinitiative. „Wir suchen weiter, bis klar ist, was mit Ekaterina passiert ist“, sagt eine der Organisatorinnen. Zwei Wochen nach dem Verschwinden der jungen Mutter suchen etwa 400 Freiwillige aus ganz Norddeutschland in Bremerhaven in mehreren Wellen nach ihr, unterstützt von Rettungshundestaffeln.

Der Fall Ekaterina im Internet

In den sozialen Medien sorgt der Fall für viel Aufsehen. Ekaterinas Familie macht in Russland im Netz auf ihr Verschwinden aufmerksam. In russischen Medien wird über häusliche Gewalt, die unglückliche Ehe und ihren eifersüchtigen Mann spekuliert. In den Netzwerken kursieren viele Spekulationen zu ihrem Verschwinden. Das Video eines russischen Journalisten über Ekaterinas Schicksal wird innerhalb eines Tages mehr als 60.000-mal angesehen. Ihre Mutter ist überzeugt: Ihre „Katya“ ist einem Verbrechen zum Opfer gefallen.

Das Verhalten ihres Mannes während der Suche

Bekannte des Paares berichten verstört, wie gleichgültig Ekaterinas Mann in diesen schweren Tagen wirkt. Er ist ruhiger als zuvor. Und erscheint mehr in Sorge um seine kleine Tochter als um seine Frau zu sein. Er soll Ekaterina erst als vermisst gemeldet haben, als deren Angehörige in Russland darauf drängen.

Freunde der Frau melden sich bei der Kripo und sagen, dass Ekaterina nie ohne ihr Kind gegangen wäre.

Vielen fällt auf: Fremde und Freunde suchen nach Ekaterina – ihr Mann nicht.

Das Engagement von Bürgern: Auch Privatleute suchen in Bremerhaven nach Ekaterina, unterstützen die Fahndung der Polizei. Foto: Lothar Scheschonka

Der Verdacht der Polizei während der Suche

Ermittler der Kriminalpolizei haben von Anfang an das Gefühl: Der Fall ist merkwürdig. Sie gehen gleich nach dem Verschwinden von Ekaterina vom Schlimmsten aus. Im Fokus steht ihr Ehemann.

Hintergrund: Ekaterina hatte ihren Mann zwei Jahre zuvor angezeigt, weil er ihr gedroht haben soll: „Ich bringe dich um und werfe dich in die Weser.“ Während Ekaterinas Besuch in St. Petersburg soll ihr Ehemann ihr ein weiteres Mal gedroht haben: „Ich töte dich und niemand wird nach dir suchen.“

Und: In Müllcontainern am Arbeitsplatz seiner Mutter findet die Polizei Kleidungsstücke von Ekaterina.

Die erste Durchsuchung des Hauses

Drei Tage nach der Vermisstenmeldung suchen Ermittler im Wohnhaus der Familie nach Hinweisen für ein Verbrechen – drei Stunden lang. Sie führen einen Spürhund durch die Garage und das Haus. In der Garage wird er unruhig, schlägt aber nicht eindeutig an. Erste Tests des Erkennungsdienstes liefern keine Anhaltspunkte für ein Verbrechen im Haus oder in der Garage.

Ihr Mann wird bei der Durchsuchung gefragt: Was könnte Ekaterina mitgenommen haben? Er trägt nichts zur Beantwortung dieser Frage bei.

Im vermüllten himmelblauen VW Golf Variant des Mannes entdeckt die Polizei ein Messer und einen Elektroschocker.

Der Fund und die Ermittlungen

Der Koffer des Grauens am Weserdeich

Am 1. März 2022, 25 Tage nach Ekaterinas Verschwinden, verbreitet sich eine grausige Nachricht – erst in Bremerhaven, dann bundesweit, bald bis nach Russland:

Ein Spaziergänger hat am Weserdeich in Bremerhaven unterhalb des markanten Hotels „Atlantic Sail City“ im Wasser einen schwer gefüllten Reisekoffer entdeckt. Die Flut hat ihn angespült. Der Koffer ist schwarz, größer als der Standard, Modell Hartschale. Der Passant öffnet den Koffer – und ist geschockt: Darin befinden sich Müllsäcke, die mit den Teilen einer zerstückelten menschlichen Leiche gefüllt sind.

Beamte des Erkennungsdienstes der Kripo verschließen den Koffer vorsichtig wieder, wuchten ihn die Böschung hoch. Er wird erst zu einer Leichenhalle in Bremerhaven, dann gleich weiter zum Institut für Rechtsmedizin in Hamburg gefahren.

Bald gibt es Gewissheit: Im Koffer befanden sich die sterblichen Überreste von Ekaterina.

Alle Hoffnungen, dass sie noch lebt, sind jäh zerstört. Sofort flammen Spekulationen auf: Wer hat sie getötet, zerstückelt, ins Wasser geworfen?

Noch am selben Tag wird Ekaterinas Mann von der Polizei festgenommen – nur wenige Meter vom Fundort des Koffers entfernt. Er sagt: Er wollte dort einen Spaziergang machen. Wenig später wird Haftbefehl gegen ihn erlassen – wegen des dringenden Tatverdachts auf Totschlag. Er schweigt zu dem Vorwurf. Er wird elf Monate nichts dazu sagen.

Dass der Koffer an Land gespült wurde, ist ein glücklicher Umstand für die Ermittlungen. Nach Strömungsberechnungen eines Sachverständigen wäre ein Abdriften des Koffers in die Nordsee durchaus möglich gewesen. „Ekaterina“ wäre dann auf ewig ein ungeklärter Vermisstenfall geblieben.

Das Ende aller Hoffnungen: Am 1. März 2022 wird in Bremerhaven am Deich ein großer schwarzer Koffer angespült. Die Polizei findet darin die zerstückelte Leiche von Ekaterina. Foto: NZ

Die zweite Durchsuchung ihres Hauses in Wulsdorf

Nach dem Fund der Leiche wird das Haus der Familie ein zweites Mal durchsucht – diesmal mehrere Tage lang. Hamburger Gerichtsmediziner und das Bundeskriminalamt sind eingebunden.

Nun finden die Polizisten in einem Küchenschrank ein Fläschchen mit einem starken Beruhigungsmittel, das auch im Blut von Ekaterina nachgewiesen wird.

Und: Es gibt kaum einen Raum, in dem nicht Einmal-Handschuhe, Folien, Klebebänder und Müllsäcke entdeckt werden. Die Ermittler sind sich sicher: Die „diversen Schutzutensilien“ sind zuvor im Internet bestellt worden.

Mehr noch: In der Garage und in einem Schuppen finden sie Kanister mit Essigsäure, Lösungs- und Bleichmittel. Und die Schlüssel zu einem Koffer. Und den rosa Schal, den Ekaterina auf ihrem letzten Selfie trägt.

Den Ermittlern fällt zudem auf, dass im gesamten Haus so gut wie keine persönlichen Gegenstände von Ekaterina mehr vorhanden sind. Ihre Kleidung wurde überwiegend entsorgt, das an glückliche Zeiten erinnernde Hochzeitsfoto hinter dem Klavier versteckt.

Auch die weiße Jacke, die Ekaterina auf ihrem letzten Selfie trug, wird gefunden: In einem Müllcontainer – am Arbeitsplatz ihrer Schwiegermutter.

Seine Briefe aus der Untersuchungshaft

Ekaterinas Mann sitzt – der Tötung seiner Frau verdächtig –in Untersuchungshaft. Oft schickt er von dort Briefe an seine Mutter – allein drei in vier Tagen im März 2022. Sie enthalten Liebesbekundungen an seine Mutter: „Mein Sonnenschein“. Und eindringliche Appelle:

„Hilf uns allen, Mutti, rette uns, Du kannst es.“

„Du bist meine einzige Hoffnung für die Zukunft.“

„Bitte rette mich auf jede erdenkliche Weise.“

Was er damit gemeint haben könnte, wird acht Monate später deutlich. Bei einer überraschenden Wendung des Prozesses gegen ihn.

In einem der Briefe aus jenen Tagen bittet er zudem seine Mutter um Verzeihung. Wofür, das hat er bis heute nie offenbart.

Die Rekonstruktion des letzten Tages

Der letzte Tag im Leben von Ekaterina

Freitag, 4. Februar 2022 – das ist der letzte Tag im Leben von Ekaterina.

Es soll ein guter Tag gewesen sein, berichtet vor Gericht eine Familienhelferin, die das Ehepaar gegen Mittag trifft. Während des Treffens lachen die Eheleute, fahren anschließend gemeinsam nach Hause.

Um 16.30 Uhr geht Ekaterina für zehn Minuten spazieren – mit einer hellen Jacke und in einem gelben Rock. Das zeigt die Auswertung von Überwachungskameras der Nachbarn. Es sind die letzten Bilder von der lebenden Frau.

Am frühen Abend isst die Familie gemeinsam. Es gibt Thunfisch und Heilbutt, Kartoffelpüree und Oliven. Kinderpunsch für das Mädchen, eine Flasche Freixenet Rosado für 2,99 Euro für die Eltern. Nach den Worten des Ehemanns ein Glas für sie, den Rest für ihn. Deshalb will er auch gegen 20 Uhr eingeschlafen sein, nachdem er die Tochter ins Bett gebracht hat.

Um 19.41 Uhr ist Ekaterinas Handy ein letztes Mal im Netz.

Um 20.25 Uhr führt sie von ihrem Computer aus ein Videotelefonat mit ihrem Liebhaber. Der Pilot erinnert sich: Sie trägt da schon einen Pyjama, ist gut gelaunt. Sie sagt, dass sie ihr Kind ins Bett bringen und ihn anschließend wieder anrufen möchte.

Ekaterina ruft ihn an diesem Abend aber nicht mehr an. Sie ruft ihn nie mehr an. Sie ruft niemanden mehr an.

Zwei Stunden später fragt der Pilot, wie weit sie ist und wünscht ihr „Eine ruhige Nacht“.

Seine Nachricht wird nicht gelesen. Ekaterina kann sie vermutlich nicht mehr lesen. Sie ist zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich schon tot.

Ekaterinas Tod

Die gerichtsmedizinischen Untersuchungen des zerstückelten Körpers von Ekaterina ergeben:

Die junge Frau wird am Freitag, 4. Februar, zwei Stunden nach dem gemeinsamen Abendessen getötet. Das belegt die Analyse ihres Mageninhaltes.

Die Forensiker finden in ihrem Blut Spuren des Betäubungsmittels Diazepam und von Alkohol.

Ekaterina wird mit zwei Händen erwürgt. Der Täter drückt so kräftig zu, dass ihr Zungenbeinknochen bricht.

Ihr Todeskampf dauert mehrere Minuten. Vermutlich wehrt Ekaterina sich. Ein Bluterguss an ihrem rechten Arm deutet darauf hin.

Schon bald nach der Tat muss ihr Leichnam zerstückelt worden sein– auf jedem Fall noch vor dem Eintreten der Leichenstarre.

Prof. Dr. Benjamin Ondruschka, Leiter des Instituts für Rechtsmedizin am Hamburger Universitätsklinikum, sagt im Prozess: Die Tote wird „sehr professionell“ zerteilt – mit sehr scharfen Werkzeugen und „talentierten Schnitten“.

Der Täter verpackt die Leichenteile in blaue und graue Müllsäcke sowie in Maler-Abdeckfolie.

Oder muss es heißen: die Täterin? Oder: die Täter?

Die Kommunikation von Mutter und Sohn in der Tatnacht

Die Auswertung der Daten der Handys des Ehemanns und seiner Mutter ergibt:

Vom Zeitpunkt der vermuteten Tötung Ekaterinas bis zum nächsten Morgen telefonieren ihr Mann und seine Mutter neunmal miteinander. Außerdem bewegt sich Ekaterinas Schwiegermutter in der Todesnacht über große Strecken.

Die Überwachungskameras

Überwachungskameras in der Straße zeigen: In der Tatnacht betritt eine nicht erkennbare Person um 0.41 Uhr das Haus. War es Ekaterinas Schwiegermutter?

Am nächsten Morgen wird das Auto von Ekaterinas Mann um 7.22 Uhr kurz geöffnet. Um 10.20 Uhr wird der Wagen weggefahren. Um 16.49 Uhr kehrt er zurück. Um 22.34 Uhr fährt er noch einmal für 36 Minuten davon.

Die Rekonstruktion der Tage nach Ekaterinas Verschwinden

Die Auswertung der Handys

Das Handy von Ekaterina ist noch einen Tag nach ihrem Verschwinden in der gewohnten Wulsdorfer Funkzelle eingeloggt. Dann wird die SIM-Karte herausgenommen.

Es dauert drei lange Tage, bis Ekaterinas Mann zum ersten Mal die Nummer des Handys seiner Frau wählt. Nicht ein einziges Mal schickt er ihr die naheliegendste aller Fragen in dieser Situation: „Ekaterina, wo bist du?“

Die Polizei findet heraus, dass Mutter und Sohn vor Ekaterinas Verschwinden jeden Tag per WhatsApp intensiv in Kontakt stehen. Danach herrscht zwischen beiden mehrere Tage lang Funkstille. Was völlig untypisch für sie ist.

Und: Der Angeklagte löscht auf seinem Mobiltelefon Fotos und Videos, die Daten der Telefonate mit der Mutter, SMS und ganze Chats. Die Kriminalpolizei aber kann später alle Daten wiederherstellen.

Das Ausräumen der Garage und des Hauses

Die Ermittler berichten im Prozess, dass Ekaterinas Mann einen Tag nach ihrem Verschwinden beginnt, die Garage und teils auch das Haus zu leeren. Videos der Kameras der Nachbarn zeigen: In der Regel wird sein Wagen spätabends beladen.

Ein Polizist, der bei Durchsuchungen dabei ist, sagt später vor Gericht: Ekaterinas Mann hat nach dem Verschwinden seiner Frau „das halbe Haus ausgeräumt“ und entsorgt.

Einem Arbeitskollegen fällt bei einem Besuch in Wulsdorf auf: Noch während nach Ekaterina gesucht wird, stehen in der Garage bereits drei Müllsäcke, voll mit Ekaterinas Kleidung. „Die braucht sie ja nicht mehr“, sagt ihr Mann.

Der 46-Jährige wird zum Kettenraucher. Und: Seine Mutter ist nun noch öfter im Haus – fast so, als wäre sie bei ihrem Sohn eingezogen.

Die Säuberung des Wagens

Mitte Februar fährt der Mann von Ekaterina mit seinem Auto bei einem Fahrzeugaufbereiter im Fischereihafen von Bremerhaven vor. Sein Wunsch: Das Wageninnere soll „sehr gründlich“ gesäubert werden, „von oben nach unten“.

Der Innenraum wird ausgesaugt, mit Druckluft und einem Universalreiniger behandelt, die Scheiben geputzt und die Polster mit einem Sprüh-Extraktionsgerät und einer chemischen Substanz.

Bei der Abholung erkundigt sich der Kunde: Ist die Arbeit „gut und gründlich gemacht“ worden? Der Chef der Autoreinigung erinnert sich:

Seine Erklärung für ihr Verschwinden

Die Aussage des Ehemannes

Am 10. Februar 2022 – sechs Tage nach dem Verschwinden Ekaterinas – wird ihr Ehemann festgenommen. Einen Tag später verhört die Kriminalpolizei Bremerhaven ihn sechs Stunden lang. Der Hauptsachbearbeiter für den Fall beschreibt den Mann als den ungewöhnlichsten Tatverdächtigen seiner Laufbahn.

Die Polizei konfrontiert ihn mit dem Vorwurf, dass er seine Frau getötet haben könnte. Beteiligte an dem Verhör erinnern sich: Der so Beschuldigte ist darüber weder erschrocken noch empört. Er wirkt auch nicht um seine Frau besorgt, die nun schon eine Woche spurlos verschwunden ist. Stattdessen beschäftigt ihn die Frage, ob er das alleinige Sorgerecht für sein fünfjähriges Töchterchen bekommt, falls seine Frau nicht mehr auftaucht. Und er fragt nach Zeitschriften, falls ihm in der Zelle langweilig wird.

Zu ihrem Verschwinden sagt er: Er hat nach dem letzten gemeinsamen Essen der Familie Herzrasen und Unwohlsein, ruft deshalb seine Mutter an. Die gibt ihm dem Rat: „Trink ein Glas Wasser und leg dich wieder hin!“ Er tut das, wacht erst am nächsten Morgen auf – und seine Frau ist fort. Sie habe das ständig getan, kam aber immer wieder – deshalb habe er sich keine Sorgen gemacht.

Er äußert die Vermutung, dass seine Frau wieder nach Russland gereist ist – mit 13.000 Euro, die sie ihm gestohlen habe. Als Beleg führt er einen verschwundenen Koffer an: schwarz, groß, Hartschale.

Diese Beschreibung passt exakt zu dem Koffer, in dem vier Wochen später am Weserdeich in Bremerhaven die zerstückelte Leiche seiner Frau gefunden wird.

Die große Anteilnahme

Das Gedenken an Ekaterina

Während die Polizei intensivst gegen den Ehemann ermittelt, legen tief erschütterte Menschen vor dem Wohnhaus des Paares und am Fundort der Leiche Blumen, Kerzen, Fotos, gemalte und geschriebene Zeichen der Erinnerung nieder. Freunde und Bekannte, aber auch viele, die die 32-Jährige gar nicht kannten, bekunden ihre Anteilnahme am Schicksal der jungen Mutter.

Am Weserdeich wird feierlich an Ekaterina gedacht. Eine der Initiatorinnen der privaten Suchaktionen schließt in einer Ansprache damit ab:„ Dies ist nun der Ort, wo unsere Suche endet.“ Frauen lassen weiße Luftballons in den Himmel steigen.

Die russisch-orthodoxe Gemeinde richtet einen Trauergottesdienst zu Ehren der Getöteten aus.

Freunde der jungen Frau organisieren eine Spendenaktion, damit Ekaterina in ihrer Heimatstadt St. Petersburg begraben werden kann. Über 15.000 Euro kommen zusammen. Das übrigbleibende Geld soll ihre fünf Jahre alte Tochter finanziell unterstützen.

Wegen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine ist der Weg der Urne mit der Asche der Toten in ihre Heimat kompliziert: Sie muss per Paketdienst über die Türkei nach St. Petersburg geschickt werden.

Hunderte trauern um Ekaterina: Freunde, Familie und viele Bürger legen auf einer Bank nahe des Fundorts ihrer Leiche am Deich von Bremerhaven Blumen nieder. Foto: Ralf Masorat

Der Verbleib des Mädchens

Die kleine Tochter

Im Februar 2022, knapp eine Woche nach dem Verschwinden von Ekaterina, nimmt das Jugendamt ihre Tochter (5) vorsorglich in seine Obhut. Bis dahin wohnte das Mädchen bei seinen Großeltern.

Seither lebt das Mädchen mit vier anderen Kindern in einer Kleinsteinrichtung in Norddeutschland. Sie wird von Trauma-geschultem Personal betreut.

Eine Psychologin berichtet im Mordprozess etwas Beklemmendes: „Wir haben den Verdacht, dass sie ihre tote Mutter gesehen hat.“ Einem ihrer Betreuer hat die inzwischen Sechsjährige „ihr Geheimnis“ von abgetrennten Händen und dem Hals erzählt. Das Kind soll dabei gesagt haben: „Mama ist Müll.“ Und: Sie soll ihren Vater belastet haben.

Ihre Großmutter Svetlana will das Mädchen nach St. Petersburg holen und es dort aufwachsen lassen. Das Jugendamt aber verwehrt der Frau, die ihre Tochter so grauenhaft verloren hat, die Erfüllung dieses Herzenswunsches. Sie kämpft per Klage für das Sorgerecht.

Die Anklage und der Prozess

Die Anklage

Im Juni 2022 reicht die Staatsanwaltschaft Bremen Anklage gegen Ekaterinas Mann beim Landgericht Bremen ein. Sie lautet nicht mehr auf Totschlag, sondern auf Mord. Ihm wird Mord an seiner Frau angelastet, da er die Tat geplant und im Internet nach Tötungsmöglichkeiten recherchiert haben soll. Das Landgericht lässt die Anklage zu.

Am 26. August 2022 beginnt vor der Großen Strafkammer am Schwurgericht des Landgerichts Bremen unter Leitung des Vorsitzenden Richters Björn Kemper der Prozess gegen den Ehemann von Ekaterina.

In der Anklage wirft ihm die Staatsanwaltschaft vor, seiner Frau im Februar 2022 ein Beruhigungsmittel in ihr Getränk gegeben und ihr dann nach ihrem Einschlafen die Luftzufuhr abgedrückt zu haben.

Außerdem soll er die Leiche zerteilt und – in Plastikfolien und Müllsäcken verschnürt – in einen großen Koffer gepackt haben. Diesen Koffer soll er mit seinem Wagen an einen Fluss im Raum Bremerhaven gebracht und dort entsorgt haben.

Als Motiv für den Mord nennt die Staatsanwaltschaft die Angst des Mannes, bei einer Scheidung das Sorgerecht für seine Tochter zu verlieren.

Die Beweislage und der Prozess

Da sich der Angeklagte im Prozess nicht äußert, muss die Anklage ihm die Tat nachweisen. Es wird ein langwieriger Indizien-Prozess, den ein Richter als „Puzzle“ charakterisiert.

Das Schwurgericht hat einen Mammut-Prozess vor sich. Es werden anfangs 36 öffentliche Verhandlungstage angesetzt. Über 100 Zeugen sollen gehört werden.

Drei Berufsrichter und zwei Schöffen sollen am Ende über die Schuld von Ekaterinas Mann entscheiden.

Ekaterinas Mann vor Gericht

Vor Gericht trägt Ekaterinas Mann seinen Ehering, als Familienstand gibt er „verwitwet“ an. Vor allem aber schweigt er. Monatelang sagt er nichts zu dem Vorwurf, dass er seine geliebte junge schöne Frau betäubt, erwürgt, zerteilt, in Müllsäcke gesteckt, in einen Koffer gepackt und ins Wasser geworfen haben soll.

Er ist ein kräftiger Kerl, aber auf der Anklagebank zwischen seinen zwei Anwälten weint er manchmal wie ein Kind – etwa wenn Verwandte über seine Ehe aussagen, wenn Freunde von Treffen erzählen, wenn im Verhör von seiner toten Frau die Rede ist, wenn Psychologen über seine traumatisierte Tochter berichten.

Oft sieht es so aus, als wolle Ekaterinas Mann etwas sagen zu all denen, die er kennt und die nun am Zeugentisch Platz nehmen. Aber seine Anwälte raten ihm ab.

Manchmal hält Ekaterinas Mann sich bei den Aussagen von Zeugen die Ohren zu. Oder er drückt seine Hände vors Gesicht, wenn Fotos gezeigt werden. So, als könne er das alles nicht ertragen.

Oder so, als ginge ihn das alles nichts an. Er schüttelt den Kopf und starrt zu Boden.

Die meiste Regung zeigt er, wenn er seine Mutter im Gerichtssaal sieht. Als sie als Zeugin vernommen wird, weint er.

Er wirft ihr intensive Blicke zu, legt dabei seine Hände wie zum Gebet aneinander. „Hol mich hier raus“, soll er seine Mutter in einem Brief schon einmal angefleht haben.

Des Mordes an seiner Frau angeklagt: Der Ehemann von Ekaterina auf der Anklagebank im Landgericht Bremen. Foto: Ralf Masorat

Die Spurensuche im Haus und im Auto

Der Mann von Ekaterina schweigt – also muss das Gericht alle Spuren, Indizien und mögliche Beweise detailliert erörtern.

Etliche Beamte der Polizei geben tiefe Einblicke in ihre monatelangen Ermittlungen.

In der Garage, die Ekaterinas Mann mit Tipps aus dem Internet sanieren wollte, haben sie Spuren von Blut gefunden – unter einem Regal, auf dem Boden, an einer Leiter, in Fugen.

Auch im Teppich des Kofferraums seines Autos finden sich Spuren von Blut – trotz der gründlichen Reinigung durch die Autoaufbereiter. Gutachter des Rechtsmedizinischen Instituts am Hamburger Universitätsklinikum können nachweisen: Es stammt von Ekaterina.

Die Spurensuche in seinem Handy

Als Ekaterinas Leiche gefunden wird, untersuchen Spezialisten der „Technischen Einsatz- und Ermittlungsunterstützung“ der Polizei das Handy ihres Mannes ein zweites Mal. Mit neuer Technik dringen sie noch tiefer zu gelöschten Inhalten vor. Auch gelöschte Daten auf seinem Computer rekonstruieren sie. So können sie auch rund 500 Internet-Suchen zwischen Dezember 2021 und Ende Februar 2022 auswerten.

Was sie dabei finden, ist schockierend. Ekaterinas Gatte wollte in den Wochen und Tagen vor ihrem Tod etwa herausfinden:

Wie liest man fremde Chats bei WhatsApp?
Wie wirken Säuren?
Welche Schlafmittel sind per Internet ohne Rezept zubekommen?
Wie wirken Betäubungsmittel?
Wann wird eine Tabletten-Überdosis gefährlich?
Wann tritt der Tod durch Schlafmittel ein?
Sind vor Gericht Lügendetektoren zulässig?
Kann man in Deutschland auch ohne Beweise verurteilt werden?
Wie kann ein Auto innen gründlichst gereinigt werden?
Wie kann der Fußboden einer Garage saniert werden?

Auch die Zeitpunkte der Recherchen werten die Ermittler aus: Eine Woche nach der Rückkehr von Ekaterina aus Russland sucht ihr Mann im Internet nach „Mit Säure übergießen“, nach freistehenden Badewannen und nach der Wirkung von Säuren auf lebendiges Gewebe. Am Tag des Verschwindens seiner Frau googelte er zweimal nach „Elektroschocker“.

Die Beamten finden auf seinem Handy auch Fotos von der Kleidung seiner Frau, die sie auf ihrem letzten Spaziergang getragen hat – aufgenommen von ihrer Schwiegermutter, zwei Tage später im Haus des Ehepaares.

Das verblüffende Geständnis der Mutter

Im Oktober 2022, einen Verhandlungstag nach der Präsentation der belastenden Internet-Recherchen durch Ekaterinas Mann, kommt es im Prozess zu einer unerwarteten, verstörenden und auch heiklen Wende:

Als die Mutter des Angeklagten erstmals als Zeugin vernommen wird, behauptet die kleine, korpulente Frau:

„Das war nicht mein Sohn. Das habe ich gemacht.“

Sie meint damit: Nicht ihr Sohn hat Ekaterina getötet, sondern sie.

So schildert sie dem verblüfften Gericht den Ablauf:

Sie kommt mitten in der Nacht ins Haus ihres Sohnes und ihrer Schwiegertochter – weil ihr Sohn sie per Anruf gebeten hat, sich um ihre Enkelin zu kümmern.

Die Frau findet Ekaterina auf dem Sofa vor – so fest schlafend, dass sie ihre Schwiegertochter durch Rütteln aufwecken will. Beim Aufwachen schlägt Ekaterina sie – worauf sie ihre Schwiegertochter erwürgt – nicht wissend, was sie da tut.

Am nächsten Tag will sie Ekaterinas Leiche zerstückelt haben – in vierstündiger Arbeit, während ihr Sohn mit der Tochter in Otterndorf an der Elbmündung Muscheln sammelt.

Sie will die Leichenteile in Müllbeuteln verpackt und in dem schwarzen Koffer verstaut haben. Um dann den Koffer und einen Müllbeutel mit einem Oberschenkel gemeinsam mit ihrem Sohn in dessen Auto etwa zwölf Kilometer nach Bramel zu bringen und von einer Brücke in den Fluss Geeste zu werfen.

Kann das stimmen? Von dort bis zum Fundort hätte der Koffer 12,5 Kilometer zurücklegen, dabei Hindernisse wie eine Stauschleuse und ein Tidesperrwerk überwinden müssen. Ein Mathematiker der Bundesanstalt für Seeschifffahrt und Hydrographie errechnet später mit Driftmodellen, dass das im Bereich des Möglichen ist – so unwahrscheinlich es auch klingt.

Mutter und Sohn beharren darauf: Sie wollen den Koffer mit den Leichenteilen von Ekaterina weit im Landesinneren in die Geeste geworfen haben.

Die herzkranke Mutter formuliert ihr Geständnis unter Tränen, schluchzt dabei: „Es tut mir so leid, es tut mir so leid.“

Sie beteuert: Ich habe Ekaterina wie eine eigene Tochter geliebt. Und: „Ich wollte das nicht.“ Sie könne sich nicht erklären, was passiert sei in jener Nacht. Sie könne mit der Schuld nicht mehr leben und nicht mehr zusehen, wie ihr Sohn und ihre Enkelin leiden.

Trotz ihrer Selbstbezichtigung verlässt Ekaterinas Schwiegermutter den Gerichtssaal an diesem und auch an allen weiteren Prozesstagen, die sie als Zuschauerin verfolgt, als freie Bürgerin. Das Schwurgericht und die Staatsanwaltschaft schenken der Aussage der 66-Jährigen keinen Glauben und gehen davon aus, dass sie damit nur ihren Sohn schützen will.

Ein Indiz für diesen Versuch ist in den Polizeiakten zu finden: Die Frau hat demnach ihren Sohn vor dem Prozess gefragt: „Soll ich die Schuld auf mich nehmen?“

Selbst erfahrene Strafverteidiger sind über die Selbstbezichtigung der Mutter verblüfft. Der Verteidiger des Sohnes sagt: „Das kennt man eigentlich nur aus weniger guten Filmen.“

Der Anwalt der 66-Jährigen fordert, sie festzunehmen. Die Verteidiger ihres Sohnes fordern, ihn freizulassen.

Dazu aber kommt es nicht. Die Mutter bleibt frei, ihr Sohn bleibt in Haft.

Anfang Mai schildert die Frau in einem Brief an das Gericht detailliert, wie sie die Leiche ihrer Schwiegertochter zerteilt haben will. Sie berichtet, in welcher Reihenfolge und mit welchen Schnitten sie die Körperteile abtrennte. Und wieder beteuert sie: „Mein Sohn hat es nicht getan.“ Sie sei die Schuldige, sie müsse verhaftet werden. Sie will erneut befragt und endlich angeklagt werden.

Doch das Gericht erfüllt ihr diesen Wunsch wieder nicht, schenkt ihr immer noch keinen Glauben.

Im Mai 2023 legt die Mutter des Angeklagten, die seit Monaten jeden Verhandlungstag verfolgt, deshalb schriftlich nach: In einem erneuten, neun Seiten langen Brief an das Gericht bezichtigt sie sich abermals des Mordes an ihrer Schwiegertochter. Und sie präsentiert eine neue Version des angeblichen Geschehens in der Todesnacht.

Ist es diesmal die reine Wahrheit? Oder passt sie ihre Aussagen nur raffiniert an die Beweisführung während der Prozesstage seit ihrem ersten Geständnis an?

Die während des Verfahrens sichtlich gealterte Frau schreibt nun:

Ich habe Ekaterina gehasst, konnte es meinem Sohn aber nicht sagen. Er kämpfte um die Liebe seiner Frau – ich fürchtete, dass sie ihn umbringen will. Daher habe ich beschlossen, die Familie von Ekaterina „zu befreien“ – mit einer vorgetäuschten Selbsttötung der jungen Frau.

So soll das grausame Geschehen laut ihrem Schreiben abgelaufen sein:

Sie tippt einen Abschiedsbrief, den sie neben Ekaterinas Leiche legen will. Es soll so aussehen, als hätte sich Ekaterina wegen ihrer unglücklichen Liebe zu dem Piloten in Russland zum Suizid entschieden.

Sie mischt Schmerz- und Schlafmittel in einen Saft, füllt den Gift-Mix mit verschiedenen Dosierungen in drei Flaschen: die höchste Dosierung für Ekaterina, eine schwächere für ihren Sohn, eine ganz schwache für ihre Enkelin. Die drei Flaschen gibt sie ihrem Sohn mit – ohne dessen Wissen um den gefährlichen Inhalt, aber mit dem mütterlichen Auftrag, den Saft am Abend seiner Frau, ihrem Töchterchen und sich zu servieren.

In der Nacht nach dem Abendessen mit dem Gifttrunk fährt sie zum Haus ihres geliebten Sohnes und ihrer verhassten Schwiegertochter. Ekaterina liegt dort schlafend auf dem Sofa – offenbar hat die Betäubung gewirkt. Die junge Frau erwacht bei ihrem Kommen aber, richtet sich auf, würgt sie und droht ihr: „Jetzt werde ich dich töten, du alte Hexe.“ Dann will wiederum sie ihrer Schwiegertochter den Hals zugedrückt haben – so lange, bis Ekaterina tot ist. Ihre Leiche will sie noch in der Nacht in der Garage zerteilt haben.

Die komplexe juristische Lage seit den Geständnissen der Mutter

Der Prozess wird durch die Geständnisse der Mutter noch diffiziler, als er ohnehin schon ist.

Prozessbeobachter meinen: Für die Schuld von Ekaterinas Ehemann gibt es trotz intensivster Ermittlungen zwar viele Indizien, aber keinen klaren Beweis. Zu dieser Einschätzung kommt auch die Kriminalpolizei.

Stattdessen gibt es mit seiner Mutter seit ihrem Geständnis jemanden, der offensiv behauptet, Ekaterina allein und ohne Wissen und Zutun ihres Sohnes getötet zu haben. Er habe erst am nächsten Tag von ihrer Tat erfahren und ihr nur geholfen, die Leiche seiner Frau zu beseitigen.

Würde die Staatsanwaltschaft ihr Glauben schenken und einen Haftbefehl gegen sie beantragen, müsste der Angeklagte freigesprochen werden.

Genau das könnte das Kalkül seiner Mutter gewesen sein. Später wird vor Gericht bekannt: Nach ihrem Geständnis ruft die Frau bei einer Ex-Kollegin ihres Sohnes an. Sie interessiert dabei nur eines: Kann mein Sohn auf dem Autoterminal gleich wieder anfangen, wenn er freigesprochen wird?

Lange Gänge, langes Verfahren: Der Flur des Landgerichts in Bremen, wo der Fall monatelang verhandelt wird. Foto: Arnd Hartmann

Der Rechtsmediziner

Auch der Leiter des Instituts für Rechtsmedizin am Hamburger Universitätsklinikum, Prof. Dr. Benjamin Ondruschka, glaubt der Schwiegermutter nicht. Er sagt drei Verhandlungstage nach ihrem Geständnis: In ganz Norddeutschland hat es seit 1959 keinen einzigen dokumentierten Fall gegeben, dass eine Schwiegermutter ihre Schwiegertochter zerstückelt und die Leichenteile abgelegt hat.

Der Experte findet: „Ein derartiges Tatmuster ist eindeutig männlich.“ Der Verteidiger kontert: „Eine kann die Erste sein.“

Der Angeklagte spricht nun doch – stundenlang

15. Februar 2023: Nach sechs Monaten Prozess, ab dem 28. Verhandlungstag, spricht der Angeklagte erstmals ausführlich. Zwei Verhandlungstage lang liest er seine auf 230 Blatt Papier niedergeschriebenen Notizen vor – über seine Jahre in Kasachstan, sein Leben, seine Liebe. Grundtenor: Ich habe Ekaterina immer geliebt, und unsere Tochter auch. Aber Burn-out und psychologische Probleme bei Ekaterina hätten immer wieder zu Streit geführt.

230 Blatt Papier – aber die alles verändernde Tatnacht streift er nur kurz. Er will geschlafen haben, als seine Mutter seine Frau tötete und in die Garage schleifte. Auch er aber bezichtigt seine Mutter der Tat. Mit sperrigen Formulierungen äußert er die Einschätzung, dass sie „höchstwahrscheinlich als Täterin Tötungsabsicht und Zerstückelungsabsicht“ gehabt und „meine liebe Frau zerstückelt“ hat.

Am Ende wendet der Angeklagte sich in der Hoffnung auf Freispruch an das Gericht. Und auch diesmal steht sein einziges Kind im Zentrum seines Denkens: „Meine Tochter darf ihren Vater nicht auch noch verlieren.“

Wochenlang beschäftigt der Mann, der sieben Monate lang schwieg, das Gericht mit immer neuen Beweisanträgen und Einlassungen. 89 Beweisanträge sind es schon bis Ende März, Dutzende weitere folgen im April und Mai.

Oft will er Gutachter und Zeugen noch einmal aussagen lassen. Seine Schulzeugnisse etwa sollen seine Intelligenz beweisen, Gutachten sollen die Sexbesessenheit seiner Frau deutlich machen, Anträge sollen Widersprüche in den Aussagen seiner Mutter belegen.

Auf der Zielgeraden des Prozesses wirkt es so, als seien der Sohn und seine Mutter sich nicht mehr so einig wie ein Leben lang: Er habe alles so gemacht, wie seine Mutter es zu ihm gesagt habe. Doch „sie hat mich verraten, benutzt, im Gefängnis sitzen gelassen“. Sie müsse noch einmal vorgeladen und befragt werden, der Staatsanwalt müsse sie anklagen.

Das Gericht lehnt all das mit stundenlangen Begründungen ab. Es entscheidet: Es ist Zeit für die Plädoyers von Anklage und Verteidigung.

Die Plädoyers

Der Staatsanwalt

Staatsanwalt Rhode macht in seinem zweitägigen Plädoyer Ende April und Anfang Mai schnell deutlich: Die Anklage hat dem Geständnis der Mutter von Anfang an keinen Glauben geschenkt. „Für die Tat kommt ausschließlich der Angeklagte in Betracht.“ Zu diesem Schluss kommt er anhand der Obduktion, der Telefondaten und der Videoaufnahmen aus der Nachbarschaft. Ihre Angaben zum vermeintlichen Tathergang passen für ihn nicht den Erkenntnissen der Gutachter zusammen.

Nach Überzeugung des Staatsanwaltes war es so:

Im langen Trennungs- und Sorgerechtsstreit“ wird dem Angeklagten irgendwann klar, dass die Scheidung nicht mehr zu verhindern ist und die Tochter wohl der Mutter zugesprochen wird. Deshalb besorgt er sich drei Fläschchen Diazepam, um Ekaterina nach oder bei einem Abendessen zu betäuben.

Als Ekaterina reglos auf dem Sofa liegt, zieht ihr der Angeklagte Einweghandschuhe über, um mögliche DNA-Übertragungen zu verhindern. Dann würgt er seine betäubte Frau solange, bis sie tot ist. Mit einem Elektroschocker überprüft er, ob sie wirklich tot ist. Auf einem Bein der Leiche finden sich dunkle Punkte – passend zu dem Gerät.

Noch in der Nacht zerteilt der Mann seine Frau. Am frühen Samstagmorgen beginnt Ekaterinas Mann mit der Entsorgung von Beweismitteln. Gegen 7.20 Uhr belädt er sein Auto und fährt davon.

Der Staatsanwalt und die Nebenkläger fordern deshalb Lebenslänglich als Strafe – für einen Mord mit einer besonderen Schwere der Schuld. Das bedeutet: Schließt sich das Gericht dieser Einschätzung an, könnte Ekaterinas Mann nicht nach frühestens 15 Jahren auf Bewährung aus dem Gefängnis entlassen werden.

Opferanwältin Magaret Hoffmann richtet in ihrem Plädoyer eindringliche Worte an den Tatverdächtigen: „Sie wollten ihrer Tochter alles geben und haben ihr allesgenommen: Die Mutter, den Vater, auch die Großeltern und das Zuhause.“  

Die Verteidigung

Zwei Verteidiger hat der Angeklagte: Thomas Domanski (Bremerhaven) und Prof. Helmut Pollähne (Bremen) – ein Strafverteidiger von exzellentem Ruf.

Beide plädieren auf Freispruch.

Rechtsanwalt Domanski zeigt sich sicher: „Er ist kein Mörder“. Es gebe zwar ein paar Indizien, aber keine Beweise.

Prof. Pollähne fordert einen Tag später ebenfalls, Ekaterinas Mann aus Mangel an Beweisen vom Mordvorwurf freizusprechen. Seine Argumentation: Es gibt weder Zeugen noch Spuren noch ein Geständnis, dass der Ehemann der Täter war. Es gebe nur ein paar Indizien, die seien aber einseitig ausgewertet worden. „Dass es so gewesen sein könnte, reicht nicht aus“, sagt der Verteidiger.

Und Pollähne erinnert an das Geständnis der Mutter des Angeklagten, dass sie die Tat begangen habe. Pollähne prangert an, dass dieses Mordgeständnis bislang folgenlos blieb: Wenn sein Mandant nicht in Untersuchungshaft gesessen hätte, hätte das Geständnis seiner Mutter sicher zu ihrer Anklage und ihrer Inhaftierung geführt. Pollähne: „Was für eine verkehrte Welt.“ 

Das letzte Wort des Angeklagten

Zwei lange Verhandlungstage nutzt der mittlerweile 47-jährige Angeklagte sein Recht, sein Schlusswort zu halten. Er verliest es, und es dauert sieben Stunden.

Seine liebste Vokabel dabei ist „nachweislich“. Nach eigener Einschätzung war er nachweislich ein guter Ehemann, nachweislich ein toller Vater, nachweislich ein Top-Mitarbeiter. Und er schildert sich als intelligent und planungssicher. Seine Argumentation: Hätte er Ekaterina getötet und beseitigt, hätte er dank seiner nachweislichen Fähigkeiten nicht so viele Spuren hinterlassen und nicht so viele Fehler gemacht.

Ekaterina beschreibt er als „sehr glückliche Ehefrau, weil ich sie aus all den Problemen befreien konnte“. Und er beteuert mit gefalteten Händen: „Sie war meine Prinzessin.“

Flehentlich wiederholt er: „Ich schwöre auf alles, was mir heilig ist: Ich habe Katya nicht zerschnitten. Zum 2000. Mal – es war meine Mutter.“ Er habe ihr diese Tat in der Annahme verziehen, dass sie seine Katya nicht mit Absicht getötet habe.

Und er fügt an: „Ich bin nicht schuld, dass es keine Beweise gibt, dass meine Mutter meine Frau getötet und zerstückelt hat“.

Sein Plädoyer in eigener Sache beendet er mit den Worten: „Ich habe fertig.“ 

Sie fällten das Urteil: Die Große Strafkammer am Schwurgericht des Landgerichts Bremen unter Leitung des Vorsitzenden Richters Björn Kemper (dritter von links). Foto: Ralf Masorat

Das Urteil

Nach 44 Prozesstagen

Dienstag, 23. Mai, 9.16 Uhr: Am 44. Verhandlungstag verkündet das Schwurgericht am Landgericht Bremen sein Urteil in dem Prozess, der in die deutsche Rechtsgeschichte eingehen dürfte.

Der Ehemann von Ekaterina wird wegen Mordes zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt.

Der Verurteilte kämpft während der Urteilsbegründung mit den Tränen, schüttelt häufig den Kopf, schaut meistens mit leerem Blick geradeaus. Einmal legt er seinen Kopf auf den Tisch, vergräbt ihn in seinen Armen.

Der Bundesgerichtshof

Sowohl der Angeklagte als auch die Staatsanwaltschaft beantragen nach dem Urteil beim Bundesgerichtshof die Revision – Ekaterinas Ehemann, weil er freigesprochen werden will von dem Vorwurf, seine Ehefrau erst betäubt und dann erwürgt zu haben. Der Staatsanwalt, weil er anders als die Richter nicht nur die Heimtücke, sondern auch niedrige Beweggründe als Mordmerkmal sieht.Der Ankläger hatte auch für eine besondere Schwere der Schuld plädiert, so dass der Täter nicht nach 15 Jahren Haft auf Bewährung freikommen könnte.

Ende März 2024 weist das oberste deutsche Gericht beide Anträge zurück. Der Prozess ist ordnungsgemäß verlaufen, es wurden keine Fehler gemacht – das Urteil ist damit rechtskräftig. Ekaterinas Ehemann hat keine Möglichkeit, dagegen vorzugehen.

Die Tochter

Als das Urteil am 23 Mai 2023 verkündet wird, ist das Töchterchen von Ekaterina und ihrem Mann sechs Jahre alt.

Das Mädchen lebt in einer Einrichtung für traumatisierte Kinder. Zu seinem Schutz bekommt es einen neuen Namen.

Seine Mutter ist tot, seinen Vater hat es seit seiner Verhaftung nie mehr gesehen.

Das Kind entwickelt sich nach den Worten der Psychologin, die jetzt ihr Vormund ist, trotz allem Durchlebten „super“: Die Sechsjährige ist fröhlich, fit und pfiffig.

Bei einer Befragung nach dem Verschwinden ihrer Mutter und nach der Verhaftung ihres Vaters hat das Kind gesagt:

Ich bin traurig, dass ich meinen Papa nicht sehen darf.

Und:

Ein True Crime Special der NORDSEE-ZEITUNG

Grafik und Umsetzung:

Charlene Schnibbe, Lena Gausmann und Gero Balsen

Text:

Christian Lindner, Thorsten Brockmann, Regina Konradi

Foto:

Arnd Hartmann, Lothar Scheschonka, Ralf Masorat

Über die Autoren

Christian Lindner
Thorsten Brockmann

Chefreporter

Thorsten Brockmann ist gebürtig in Bremerhaven. Bei der NORDSEE-ZEITUNG arbeitet er seit 1989. Seine Themen: Kreuzfahrt, Wirtschaft und die Polizei.

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